Was heißt Stehaufmännchen auf brasilianisch?
Er hat in seiner über sechs Jahrzehnte währenden Laufbahn schon viele Labels angeheftet bekommen: Sonnyboy, Surfer, Rebell, Frauenheld, Schürzenjäger, King of Groove. Nur »Stehaufmännchen«, dieses Prädikat sucht man bisher vergeblich. Dabei fallen bei näherer Betrachtung wenige Worte ein, die Valles wechselhafte, von Höhen und Tiefen geprägte Karriere besser beschreiben könnten.
Wer den 1942 in Rio geborenen Marcos Valle mit seinen 82 Lenzen sieht, versteht jedoch schnell, warum man heute kaum noch über die dunkleren Zeiten im Leben Valles redet: Der längst zur Ikone aufgestiegene Kerl sieht schlicht und ergreifend aus, als hätte er noch nie ein Problem in seinem Leben gehabt.
Von Methusalem keine Spur, stattdessen grüßt einen die Aura eines Lebemanns in seinen besten Jahren — inklusive gut gebräuntem und noch besser trainiertem Körper. Bis heute besucht er mindestens dreimal die Woche einen der Strände zwischen Zuckerhut und Christo Redentor-Statue und stählt seine Muskeln mit Liegestützen und Sit-Ups, heißt es zumindest.
Wenn man nur von den bitterschönen Dingen im Leben singt, von Liebe und Liebeskummer unter der Sonne, wird man keine Probleme bekommen (Marcos Valle) — aber weit gefehlt!
Es gibt aber keinen Grund, dieser Info zu misstrauen. Dabei sah es nicht immer ganz so rosig aus, wenngleich seine Startvorausetzungen nicht die schlechtesten waren. Der Großvater wanderte um 1900 aus Deutschland in Brasilien ein, wurde Rechtsanwalt, dessen Sohn trat in die Fußstapfen, doch als der Staffelstab an Klein-Marcos übergeben werden sollte, begann er sein Studium halbherzig und wandte sich lieber der Bossa Nova zu. Noch keine 20 schrieb er erschreckend lässige Songs, bereits mit seiner ersten Veröffentlichung »Samba Demais« bricht er insbesondere den Teenagerinnen Brasiliens das Herz. Er grüßt mit Heintje-Frisur und artigem Gesicht vom Cover. Das war 1963.
Noch vor Jahresfrist putscht das Militär und führt eine Junta-Regierung ein. Für die Musiker*innen des Landes eine Katastrophe, viele gehen ins Exil, wenige bleiben — Valle gehört mit seinem Bruder, der als sein Texter firmiert, zur letzteren Gruppe.
Valle versteht zwar schnell, wie man trotzdem Platten verkauft, unterschätzt jedoch die Tragweite der Diktatur: »Wenn man nur von den bitterschönen Dingen im Leben, zum Beispiel Liebe und Liebeskummer unter der Sonne, singt, dann wird man keine Probleme bekommen«, dachte er und lag ordentlich daneben, denn die Korridore wurden enger und enger. Die Überwachung des Kulturbetriebs wird zur Normalität.
Er versucht immer häufiger, die großen Themen anzusprechen — in wohl gewählten Chiffre. Dazu gehören Plattencover (Valle am Strand mit der Fahne »Gefährliche Strömung«) oder Textzeilen (»Er schwankte zwischen Sterben vor Angst / Und den Pelz retten wollen«). Zwischenzeitlich versucht er es mit konspirativen Treffen der Musiker*innen der Bossa, der Música Popular do Brasil (kurz: MPB) und des gerade aufkommenden Tropicalismo. Die Zensur greift aber immer heftiger durch, verbietet Songs, lässt Platten einstampfen. Vor zehn Jahren erzählt Valle in einem Interview, dass er selbst nicht mehr mitgekommen sei, welche Lieder überhaupt noch aufgeführt werden durften: »Ich habe viele Songs geschrieben, aber ich hatte das Gefühl, dass ich mit dem Tempo der Zensur nicht mithalten konnte.« 1975 entscheidet er sich endlich für das Exil: In diesem Land gibt es keine Fröhlichkeit mehr.
Er fliegt nach New York, bloß für einen Auftritt, aber ohne Rückflug-Ticket. Er bleibt dort , findet Logie bei Freunden und anderen brasilianischen Musiker*innen im Exil. Doch er wird mit dem Big Apple nicht warm, weder im übertragenen noch im wortwörtlichen Sinn. Kalifornien passte da schon besser, wie er sich erinnert. Immerhin war er Mitte der 60er bereits an der Seite von Sérgio Mendes durch die USA getourt und hatte an der Pazifik-Küste eine gute Zeit — inklusive Schlägerei mit Hollywood-Star Marlon Brando.
Der Körperkult, der längst Eingang gefunden hatte in Los Angeles, gefiel dem Lebemann. Außerdem wohnte Leon Ware, unter anderem Produzent von Marvin Gaye, in Los Angeles. Zwischen den beiden entstand eine Partnerschaft, die für drei Alben reichen sollte, denn: Valle hat damals keine Alben veröffentlicht. Ende der 1970er schien es für ihn keinen Markt außerhalb der Heimat zu geben.
Interessanterweise entscheidet er sich 1981 wieder nach Brasilien zurückzukehren. Die Militärdiktatur hatte zwar noch Bestand, war aber angeschlagen und zog sich mehr und mehr zurück. Für die Rückkehrer*innen gab es sogar Sendezeit im Staatsfernsehen, wie ein Youtube-Clip des Valle-Hits »Estrelar« beweist. Drei Alben (»Vontade de Rever Vocź«, »Marcos Valle« und »Bicicleta/Beta Menina«) folgen, jedes erfolgreicher als seine Vorgänger. Danach: Sendepause. Erst Ende der 90er entdeckt man Valle wieder. Speaking of »Stehaufmännchen«! Er habe trainiert und sich gut ernährt, erklärt er in einem Interview. Dass es finanziell doch enger wurde, zeigt sich unter anderem darin, dass er im neuen Jahrtausend nahezu jeden Auftrag angenommen hat, der auf seinem Tisch landete: Er singt für Trip-Hop-, Deep House- oder auch Broken-Beats-Produktionen. Hauptsache liquide bleiben.
Nur wenige Produktionen aus diesen Jahren sind heute der Rede wert, aber sie rücken seinen Namen ins Rampenlicht, was wiederum zu einer Wiederentdeckungs- und Re-Issue-Welle führt. Valle übersteht das alles in gewohnter Coolness und tourt seit 2010 wieder regelmäßiger — auch in Europa und den USA.
Hört man in die aktuellen Alben, dann meint man in einer Zeitkapsel zu sitzen, fast so als hätte es die letzten 40 Jahre nicht gegeben. »Sempre« von 2019 klingt wie straight aus dem Jahr 1980 gebeamt: Funk-geschwängerte Disco brasilianischer Art — mit Agogos und lauter Percussiongeschwirr
im Hintergrund. Auch die Stimme hat sich kaum verändert. Der Opener »Olha Quem Tá Chegando« macht da weiter, wo der Superhit »Estrellar« einst aufhörte.
Beweisen muss er in seinem Alter niemanden mehr etwas, Durchhaltevermögen hat er ebenso demonstriert — und doch reizt ihn auch heute noch die Herausforderung, wie er 2022 an der Seite der großen Joyce Moreno zeigte: Für die gemeinsame Freundin Gal Costa, eine der großen Diven der MPB, sangen Moreno und Valle eine berührende Elegie ein: »A Chuva sem Gal«. So zärtlich, so liebevoll: Vielleicht klang Marcos Valles Stimme nie besser als in diesem Duett.
Konzert:
So 4.8., Club Bahnhof Ehrenfeld, 20 Uhr