Gagarin
Die Sonne bricht hinter einer Häuserwand hervor und überstrahlt das Bild mit gleißendem Licht, Satellitenschüsseln, steile Perspektiven auf eine Fassade, die an eine Rakete kurz vor dem Start denken lassen: So könnte auch ein Sci-Fi-Film beginnen. Doch der Schauplatz von »Gagarin« ist eine heruntergekommene Sozialbausiedlung in Ivry-sur-Seine am Rande von Paris, die bis zu ihrem Abriss vor ein paar Jahren real existiert hat.
Archivbilder am Anfang des Films zeigen den sowjetischen Kosmonauten und ersten Menschen im Weltraum Juri Alexejewitsch Gagarin bei der Einweihung der nach ihm benannten Wohnmaschine. Der T-förmige, 13-stöckige, 1963 errichtete Gebäudekomplex versprach ein Vorbild für die sozialen Städtebauprojekte der Kommunistischen Partei Frankreichs zu werden. Und tatsächlich wirkte die Cité Gagarine inmitten der Reihen beengter Arbeiterhäuser im so genannten »roten Gürtel« der Vorstädte wie ein Schiff aus dem outer space. Heute wählt die Arbeiterschaft in Frankreich bekanntlich mehrheitlich rechts und auf dem Abrissgelände wächst gerade ein neuer Stadtteil namens Agrocité empor.
»Gagarin« wurde etwas unglücklich vom ersten Pandemie-Jahr verschluckt und findet nun mit großer Verspätung den Weg auf die deutschen Kinoleinwände. Regisseurin Fanny Liatard betont in ihrem Debüt die Nähe von Architektur und Raumfahrt auf gleich mehreren Ebenen. Dabei bürstet sie mit großzügigen Cinemascope-Bildern die Bild-Konventionen des »Banlieue-Dramas« gegen den Strich und spielt auch mit Elementen von Märchen und utopischer Erzählung, ohne die sozialrealistische Verankerung jemals ganz zu verlassen.
Youri, ein junger Mann, der das Viertel noch nie verlassen hat, lebt weitgehend auf sich allein gestellt; seine Mutter hat längst woanders ein Leben mit einer neuen Familie begonnen. Er träumt davon, Astronaut zu werden. Sein Zimmer ist voll mit Postern, Fotos und Zeitungsausrissen zum Thema Raumfahrt. Zugleich steht er mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Wirklichkeit. Um den bevorstehenden Abriss des maroden Gebäudes abzuwenden — Aufzüge und Licht sind kaputt, Müll türmt sich in den Gängen —, startet er mit seinem Freund Houssam und dem Roma-Mädchen Diana eine idealistische Sanierungsaktion. Denn mit Gagarine steht auch der Erhalt einer weitgehend intakten migrantisch geprägten Community auf dem Spiel. Einmal versammelt sich die ganze Nachbarschaft zur Betrachtung der Sonnenfinsternis vor einer von Youri installierten Folie. Es wird das letzte kollektive Erlebnis sein. Bei der Inspektion der Gemeinschaftsräume gibt es zwar gute Noten und anerkennende Blicke, ein von einem Mieter mutwillig gelegter Brand im Keller des Gebäudes besiegelt dann aber doch das Ende der Siedlung.
Von der Außenwelt abgekapselt baut Youri einen Trakt im leerstehenden Gebäude zur Raumstation um
Während nach und nach die gesamte Nachbarschaft ihr Hab und Gut zusammenpackt und sich in anonyme Wohnviertel zerstreut, bleibt der von der Mutter im Stich gelassene Youri als einziger Bewohner zurück. Einzig ein abgehalfteter Drogendealer wickelt seine Geschäfte noch auf dem mittlerweile eingezäunten Komplex ab. Von der Außenwelt weitgehend abgekapselt baut Youri einen Trakt im leerstehenden Gebäude sukzessive zur Raumstation um — und zu einer Ein-Mann-Selbstversorger-Festung. Die mit Folie ausgekleideten Wohnungen werden zu Kammern, Durchgänge zu Luftschleusen, ein ganzer Raum beherbergt ein ausgeklügeltes Ökosystem mit Gewächshaus. Über Morsezeichen kann Youri sogar mit Diana kommunizieren, die gerne auf Baukräne klettert, um vom Führerhäuschen Signale in die Nacht zu senden. Doch als die Wohnwagensiedlung, in der sie lebt, von der Polizei geräumt wird und ihre Familie weiterzieht, verliert Youri immer mehr den Kontakt zur Realität. Während die Abrissarbeiten beginnen, nimmt bei ihm der Plan einer Raumfahrtmission mehr und mehr Gestalt an.
Gegen Ende wirken die Analogien zur Kosmologie vielleicht ein wenig zu ausgespielt. »Gagarin« ist dennoch ein schöner Film, der den Sozialbau einmal nicht als Beschränkung begreift, sondern als Quelle (filmischer) Möglichkeiten. Und zudem daran erinnert, dass mit Wohnen tatsächlich einmal eine visionäre Idee verbunden war.
(Gagarine) F 2021, R: Fanny Liatard
D: Alseni Bathily, Jamil McCraven, Lyna Khoudri
98 Min. Start: 15.8.