Averroès & Rosa Parks
Der französische Dokumentarist Nicolas Philibert interessiert sich seit jeher für Menschen, deren Wahrnehmung anderen Regeln folgt — und für das Miteinander von Menschen (oder auch Menschen und Tieren) in Institutionen. Nach einem Porträt von Gehörlosen und einem Blick auf eine Dorfschule und einen Zoo widmete er sich in »Auf der Adamant« (2023) einer Tagesklinik, die kreative Programme für Menschen mit psychischen Störungen anbietet. Mit »Averroès & Rosa Parks« folgt nun der zweite Teil einer Trilogie über Neurodiversität.
Wie das auf der Seine schwimmende Schiff Adamant gehören die nach dem muslimischen Gelehrten Averroès und der afroamerikanischen Bürgerrechtsaktivistin Rosa Parks benannten Abteilungen zur Pariser Klinik für Psychiatrie Esquirol. Erneut steht das Sprechen im Zentrum, meist zu zweit, manchmal auch in der Gruppe. Es geht dabei um die gegenwärtige Situation, um Perspektiven und um die meist langjährigen Erfahrungen mit psychisch destabilen Phasen. Manchmal driften die Gespräche nahtlos in andere Wirklichkeiten ab, wie bei einem Mann, der seinen verstorbenen Großvater in wechselnden Personen wiedergefunden hat. Die Ärztinnen und Ärzte geben diesen Perspektiven Raum, versuchen dabei aber auch immer das Gespräch wieder auf den Boden der Wirklichkeit zu bringen: »Es ist eine Art der Logik, aber es ist nicht die Realität.« Ein Leben in einem »unterstützenden Rahmen« zu führen, wie es einmal heißt, wieder Teil der »Gesellschaft« zu sein, ist das von beiden Seiten immer wieder bekräftigte Ziel.
Vielleicht liegt es an dem konventionelleren Rahmen der Klinik, dass »Averroès & Rosa Parks« deutlich konzentrierter wirkt als »Auf der Adamant«. Hier stehen nicht die Ausnahme-Einrichtung mit ihren besonderen Patient*innen vor der Kamera, sondern die ganz »normalen« beeinträchtigten Menschen, ihre persönlichen Geschichten, Wahrnehmungen und Sprache. Philibert filmt sie meist in halbnahen Einstellungen, oftmals mit Gegenschnitt auf die betreuenden Personen. Sein Blick ist nüchtern. Eher implizit formuliert sich eine Kritik an Missständen: gestresstes Klinikpersonal, Mangel an Zuwendung oder auch Informationslücken, die durch die Umstellung auf digitale Datenerfassung entstehen. Einmal wird der Wunsch nach einem »menschlichen Krankenhaus« geäußert. Der Film schließt sich diesem Wunsch an, indem er dem Sprechen und Zuhören Raum und Zeit gibt.
F 2024, R: Nicolas Philibert, 143 Min. Start: 25.7.