Wenn die Baustelle länger als die Erziehung deiner Kinder dauert: Rafael Sanchez. Foto: Tommy Hetzel

Die schönste Baustelle Europas

Was plant Rafael Sanchez, der »Übergangsintendant« des Köln Schauspiels?

Eigentlich hatte Rafael Sanchez, als er für ein Jahr die Leitung des Kölner Schauspiels übernahm, mit seiner festlichen Wiedereröffnung des Hauses am Offenbachplatz gerechnet. Doch die ist mal wieder auf unbestimmte Zeit verschoben. Zum Glück hatten Sanchez und sein Team einen Plan B, das Depot in Mülheim wird weiter bespielt. Etwa mit »Grmpf«, einer musikalischen Recherche über Kölns Sanierungsdesaster.


Sie haben im neonpinken Spielzeitheft das Ensemble auf der »schönsten Baustelle Europas« fotografiert, nur die erste Hälfte der Spielzeit ist durchgeplant. Glauben Sie noch daran, dass die Eröffnung am Offenbachplatz bald stattfindet?

Meine private Meinung ist — nein. Aber ich bin Laie. Ich kann nur durch diese Baustelle gehen und denken: Ok, da ist noch einiges zu tun. Ich würde es großartig finden, wenn »Grmpf« dort noch ein paar Mal gespielt werden könnte. Das wäre mein Traum. Wir warten jetzt schon seit zehn Jahren darauf. Die Baustelle ist so alt wie meine kleine Tochter! Wir gehen aus Köln weg, ohne das neue Haus fertig gesehen zu haben. Das ist frustrierend.

»Grmpf«, eine »musikalische Baustelle«, eröffnet die Spielzeit am 14. September und recherchiert auf lustige Weise die Kölner Bühnensanierung. Sollte man darüber überhaupt Witze machen? Und stimmt es, dass der Stadtrat nicht begeistert war?

Als ich »Grmpf« beim Kulturausschuss vorstellte als »Eröffnungsgala zur falschen Zeit am falschen Ort«, haben sie nur langsam begriffen, dass wir uns im Stück realen Ereignissen widmen. Es gab kurz betretene Gesichter, aber dann haben alle geschmunzelt. Natürlich spielen wir im Stück auch mit der Frage, wer der Schuldige ist. Aber erstens wissen wir es nicht. Und zweitens geht es mir darum, dass wir das Narrativ wieder an uns reißen. Wir lesen aus der Zeitung, dass erneut ein Termin gescheitert ist und alles teurer wird. Aber warum genau, weiß man als Bürger*in nie so richtig. Daher haben wir nun hinter den Schlagzeilen geforscht. Wir wollen die Ergebnisse verbinden und Einblicke in manchmal absurde Prozesse und Pannen geben. Etwa, dass es Jahre gebraucht hat, bis alle dasselbe Software-Programm hatten, das die Pläne korrekt übereinander legt. Damals, als in einer Bürger*­inneninitiative 52.000 Unterschriften gegen Abriss und Neubau gesammelt wurden, wurde ein demokratischer Entscheid durch ein Bürger*innenbegehren umgestoßen... war das der Fehler? Wer weiß, vielleicht wäre ein Neubau auch nicht fertig geworden.

Ist das zum Lachen? Immerhin ist es ein Steuerskandal, der dem Theater und vielleicht auch der Demokratie großen Schaden zufügt.

Zudem kostet er unfassbar viel Geld. Vierzig Jahre lang müssen die Bürger*innen von Köln nun 27 Millionen Euro im Jahr abbezahlen. Aber da wir einen Schuldigen leider nicht kennen, können wir nur unsere Recherchen nebeneinanderstellen. Kaum jemand weiß noch, wie es in diesem Klotz in der Innenstadt wirklich aussieht. Irgendwann wird er fertig sein — und die Leute werden sagen: Es sieht ja aus wie früher. Aber auch hinter den Kulissen wird es noch lange nicht funktionieren. Wir glauben, dass da noch viel zukommt auf die Stadt. Aber: Wir müssen einen Umgang finden mit dem Schaden. Deshalb wird dieser Abend sehr musikalisch, er soll etwas Tröstendes haben, damit man diese Frustration kanalisieren kann. Das Schlimme für mich persönlich ist, dass die Kunst für das Desaster verantwortlich gemacht wird. Im Sinne von: Bauen können sie nicht, aber gendern...

Wir wollen die Ergebnisse verbinden und Einblicke in manchmal absurde Prozesse und Pannen geben

Ein neues Team bereichert ab September das Schauspiel Köln, fast die Hälfte des Ensembles ist neu, es wird fast zwanzig Premieren geben. Kontinuität oder Neustart?

Ich würde sagen, halb-halb. Einige sind noch da, andere in höhere Positionen gerutscht, es gibt also auch Kontinuität. Sibylle Dudek etwa ist jetzt Chefdramaturgin. Aber die Hälfte des Schauspielensembles ist neu. Mir war klar, dass viele Stefan Bachmann nach Wien folgen. Ich dachte, es sei schwer, neue Schauspieler*innen für ein Jahr zu verpflichten, aber es gab tatsächlich rund 350 Bewerbungen. Zudem kommen drei renommierte Kölner Künstler zu uns, die noch nie hier gearbeitet haben: der Regisseur Kieran Joel, der sonst an Häusern wie Dortmund oder Düsseldorf inszeniert; Lionel Somé ist ein Künstler aus Burkina Faso, der an der KHM Film studiert und mit Christoph Schlingensief gearbeitet hat; und der international gefragte Filmemacher Jan Bonny, auch KHM-Absolvent, das war ein Wunsch des Ensembles.

Was sind Höhepunkte der Spielzeit?

Richtig stolz bin ich auf zwei Namen: Der portugiesisch-chilenische Regisseur Antú Romero Nunes und die israelische Regisseurin Yael Ronen, beide mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen, werden erstmals in Köln inszenieren. Und das, obwohl gar nicht klar war, ob im neuen oder im alten Schauspiel Köln gespielt wird. Ich glaube, dass beide sehr gut zum Kölner Publikum passen.

Gibt es ein Spielzeitmotto?

Da wir nur eine so kurze Vorbereitungszeit hatten, gibt es nicht ein ­klassisches Spielzeitmotto. Aber es hat sich eine Art Oberthema ergeben: Die meisten Stücke drehen sich um das Thema Familie. Etwa »We are family« (Premiere: 28.9.), inszeniert von Jorinde Dröse, eine Antikenüberschreibung von Tine Rahel Völcker. Oder »Balkan Drift« von Ivana Sokola (P.: 27.9.): Da geht es um zwei Schwestern in Osteuropa, die mit der Leiche ihres Onkels eine abenteuerliche Reise unternehmen, um ihn zu begraben. Oder »Die Katze auf dem heißen Blechdach« von Tennessee Williams (P.: 25.10.) — auch da geht es um die Zwänge und Verstrickungen von Familie. Lionel Somé wird im Januar 2025 ein sehr berührendes Stück machen: Es geht um das Massaker von Thiaroyé, das die französische Kolonialarmee an Senegalesen verübte, die für Frankreich gekämpft hatten. Das schier Unglaubliche ist eigentlich, dass Somé herausgefunden hat, dass er selbst Enkel eines Senegalschützen ist, der noch dazu in Köln stationiert war. Und dann kommt noch das Stück »Vatermal« nach dem gefeierten Roman von Necati Öziri, inszeniert von Bassam Ghazi: die Geschichte eines abwesenden Vaters und darüber, wie man Verluste verarbeitet und in einer neuen Gesellschaft ankommt.

Sie werden nach dem letzten Jahr in Köln mit Pınar Karabulut das Schauspielhaus Zürich übernehmen. Was werden Sie in Köln am meisten vermissen?

Ich würde mir eine Mischung wünschen ­zwischen einengender Züricher Perfektion und Kölner Unperfektheit, die aber auch viele Freiheiten ermöglicht. Ich werde vermissen, wie locker und tolerant, lustig und offen man in Köln unterwegs sein kann. Das merken alle Regieteams und Künstler*innen, die hierher kommen. Sie spüren sofort die andere Atmosphäre der Stadt.