Hinter dem Werk verschwunden: Doris Heinemann

Die stille Vermittlerin

Ohne sie wäre die Literatur in Deutsch­land ärmer. Aber kaum jemand kennt diejenigen, die ein Buch aus einer Fremd­sprache ins Deutsche bringen. Ein Besuch bei der Übersetzerin Doris Heinemann

»Wir Bücherfrauen müssen zusammenhalten«, sagt Doris Heinemann, als ich sie um ein Interview bitte. Wohler fühlt sie sich aber als unbeobachtete Vermittlerin zwischen den Kulturen. Die Anonymität ihres Berufes habe sie immer auch genossen, sagt sie. Trotzdem wünsche sie sich mehr Sichtbarkeit ihrer Arbeit.

Wir treffen uns in ihrer Kölner Wohnung, wo klar wird, dass sich Arbeit und Privates nur schwer voneinander trennen lassen. »Man muss den Umgang mit dem Text auch lieben, damit man bereit ist, sehr viel Zeit hinein­zustecken, die nicht immer angemessen honoriert wird«, sagt Heinemann. »Man braucht eine gewisse Selbstdisziplin und manchmal auch eine gewisse Leidensbereitschaft«, sagt sie und lacht. An ihrem langen Schreibtisch vor der Fensterfront übersetzt sie hauptsächlich französisch­sprachige Literatur ins Deutsche. Zu ihren Übersetzungen gehören Romane von Autoren wie Gabriel Chevallier, Olivier Rolin, Felwine Sarr, aber vor allem auch der Schriftstellerin Delphine de Vigan. Ihrem Werk fühlt sich Heinemann besonders verbunden, alle auf Deutsch erschienenen Romane hat sie übersetzt. »Ich mag es, dass sie immer eine Wunde findet, eine persönliche oder gesellschaftliche Wunde«, so Heinemann. »Dass sie so ein Gespür hat für menschliches Leid, und dass sie in jedem Buch etwas Neues macht, auch stilistisch.« Delphine de Vigan habe diesen wachen Blick auf die Gesellschaft und auf die einzelnen Menschen, erzählt Heinemann. De Vigans Geschichten erzählten von den Unbequemlichkeiten und Gefahren zwischenmenschlicher Beziehungen — etwa in »Das Lächeln meiner Mutter« oder »Die Kinder sind Könige«. Dabei werde oft nicht nur ihr subtiler Humor, sondern auch ihre Experimentierfreudigkeit unterschätzt. So sei de Vigans autobiografischer Roman »Nach einer wahren Geschichte« eine »Orgie des Konjunktivs« als Verwirrspiel mit der eigenen Person, während die Autorin in der Erzählung »Loyalitäten« über einen Jungen aus zerrütteten Familien­verhältnissen mit knappen, erschreckenden Sätzen beeindrucke. Manchmal gehe in einem kurzen Satz eine ganze Welt auf. Daran hat Heinemann besondere Freude: »Es ist ein wunderschöner Beruf.«

Zum Übersetzen kam Heinemann über Umwege. »Es ist im Wesentlichen zufällig passiert«, sagt sie. Nach ihrem Lehramtsstudium schlug sich Heinemann ab Mitte der 80er Jahre als Sprachlehrerin durch, bevor ihre Mutter sie auf eine Stellenausschreibung des Ministerrats der EU in Brüssel aufmerksam machte. Das Auswahlverfahren dauerte zwei Jahre. »Dann habe ich einfach Wahnsinnsglück gehabt und bin als Übersetzerin angestellt worden.« Mehrere Jahre lebte sie in Brüssel, dann zog sie in den 90er Jahren der Liebe wegen nach Hamburg. Ein Seminar für Literaturübersetzer:innen bei der Lektorin Susanne Eversmann und den Übersetzern Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, war für Heinemann dann der lehrreiche Beginn des Literaturübersetzens. Eine 1000 Seiten schwere Camus-­Biografie schärfte ihre Fertigkeiten: »Da habe ich von dem Lektor, für den ich übersetzt habe, im Grunde alles gelernt«, erzählt sie. »Und manchmal auch im Bett gelegen und gedacht: Hoffentlich lebst du noch, wenn du abgeben musst.«

Man braucht für das Übersetzen Selbst­disziplin und eine gewisse LeidensbereitschaftDoris Heinemann

»Durchhaltevermögen« ist auch Heinemanns erste Antwort auf die Frage nach den wichtigsten Fähigkeiten, Einfühlungsvermögen und Aufgeschlossenheit ihre zweite. »Übersetzer sind neugierig. Sie recherchieren eigentlich immer.« Für Felwine Sarrs ­Roman »Die Orte, an denen meine Träume wohnen« habe sie stundenlang vor dem Computer ge­sessen und Musik gehört. Denn ­Musik spielt im ersten Roman des senegalesischen Wirtschafts­wissenschaftlers und Musikers, der durch seinen Essay »Afrotopia« zu einem der wichtigsten Denker Afrikas wurde, eine entscheidende Rolle. Nicht nur die Sprache, sondern auch ein Gefühl für die kulturellen Gewohnheiten und Unterschiede ist für das Übersetzen wichtig. Jede Arbeit am Text erfordert eine unbezahlte Mehrarbeit. »Aber das ist auch sehr bereichernd«, betont Heinemann. »Und fast so spannend wie der Sprung in den Text. Das ist eigentlich der schönste Moment. Dann tauche ich ein und versuche, den Ton zu finden.«

2021 gab in den Niederlanden eine Autorin den Übersetzungsauftrag für die Gedichte der afroamerikanischen Aktivistin Amanda Gorman zurück, als die Kritik, dass eine weiße Person nicht die Rassismuserfahrungen einer schwarzen Person übersetzen könne, lauter wurde. Darüber habe man unter den Übersetzer:innen auch diskutiert, erzählt Heinemann, »weil wir ja ständig Fremdes transportieren. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig. Das ist die Grundlage unseres Arbeitens.« Trotzdem haben die Verlage auf die Kritik reagiert, zum Beispiel mit Sensitivity Reader:innen. Auch Doris Heinemanns Übersetzung von Sarrs Roman wurde von einer Person gegengelesen, sagt sie, die dem Erfahrungshorizont der senegalesischen Zwillingsbrüder aus der Erzählung näher stehe als sie.

Die größte Herausforderung für ihren Beruf sei aber wahrscheinlich die rasante Entwicklung der Künstlichen Intelligenz. »Wenn KI zum Standardwerkzeug wird, dann wird zunächst die Qualität sinken, das Urheberrecht wird bedroht, und die Verlage werden die Fristen und Honorare ändern«, meint Heinemann. Einer angemessenen Honorierung ihrer Arbeit blickt sie daher pessimistisch entgegen. Denn leben vom Übersetzen allein könne man nur selten, fast alle Übersetzer:innen arbeiten freiberuflich. »Ich sehe auch, dass die Verlage zu kämpfen haben.« Trotzdem — oder gerade deshalb — müsse man für Veränderungen offen bleiben. Heinemann selbst arbeitet derzeit an einem Projekt, in dem Künstliche Intelligenz thematisiert und problematisiert wird. Für die Zukunft ihres Berufes wünscht sie sich aber, dass die künstlerische Arbeit von Übersetzer:innen mehr gewürdigt wird. Denn deren Gespür für den Ton und die Musikalität der Texte sei am Ende durch keine KI zu ersetzen.

Die schönste Anerkennung, sagt Doris Heinemann, sei ohnehin die der Autor:innen. Und mit welchem Zitat ließe sich die Bedeutung ihrer Arbeit daher besser unterstreichen als mit einem ihrer treuesten literarischen Verbündeten: »Übersetzer sind wie Zauberer«, hat Delphine de Vigan einmal geschrieben. »Sie interpretieren, spielen, erfinden eine Sprache neu. Ihre Arbeit ist fundamental.«

Von Doris Heinemann zuletzt übersetzte Bücher:

Delphine de Vigan: »Die Kinder sind Könige«, Dumont, 320 Seiten, 13 Euro

Felwine Sarr: »Die Orte, an denen meine Träume wohnen«, S.Fischer, 192 Seiten, 24 Euro