Der Foto-Ordner
Gelbe Postkisten stapeln sich im Solinger Atelier von Philipp Goldbach, sie enthalten etwa 25.000 Glasdias aus der Kunstakademie in Münster. Diese sind schon so gut wie auf dem Weg nach Augsburg ins H2-Zentrum für Gegenwartskunst, sollen dort als Teil einer großen Solopräsentation Goldbachs ausgestellt werden. Zunächst muss er sie aber sichten.
»So habe ich bereits ein paar Mal gearbeitet. Die Form war nicht sofort festgelegt, ich habe mich erst mal orientieren müssen«, erzählt der 1978 in Köln geborene Künstler. Derart agierte er zum Beispiel vor zehn Jahren in »Sturm/ Iconoclasm«, als er ganze 200.000 Dias des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln auf dem Boden des Museums Wiesbaden nach dem Zufallsprinzip zu einer Installation ausbreitete. Ein weiteres Mal installierte er den selben Bestand des Instituts, an dem er 2016 promoviert hat, als Wandarbeit im Pariser Centre Pompidou. Sichtbar waren dabei allein die Schmalseiten der Bildträger, die in Summe ein abstraktes Muster in schwarz und weiß ergaben. Jedes einzelne Dia enthält eine fotografische Reproduktion eines bedeutsamen Werkes aus der Kunst- und Kulturgeschichte, diente vormals zu Lehr- und Forschungszwecken. Goldbach interessiert sich nach eigener Aussage jedoch mehr für das Konvolut als Ganzes, dessen Ausmaße und Systematik.
»Wir sind es gewohnt, riesige Mengen an Daten zu erfassen, ohne ein Gefühl für deren Materialität, Volumen und Gewicht zu haben«, führt Goldbach aus. Datenbanken und unsichtbare Dienstleister lassen die Unmengen an Informationen geradezu immateriell erscheinen. Goldbachs Arbeiten beziehen sich unmittelbar auf diese Gegenwart, sind aber Rückkopplungen aus einer Zeit, in der allein über die physische Präsenz der Diatheken der Umfang des konservierten Wissens spürbar war.
Während des Atelierbesuchs arbeitet er an einem Werk, das ebenfalls für die Ausstellung in Augsburg gedacht ist. Hierfür bedient er sich der eigens aufgebauten Diathek von Kunsthistoriker Andreas Krase, Kustos für Fotografie und Kinematografie an den Technischen Sammlungen Dresden. Stolz öffnet Goldbach die originalen Schränke, in deren Schubladen die 3.220 Dias in extra angefertigten Vorrichtungen lagerten. Sie werden in Augsburg die ausgemusterte Diathek des Institute of Fine Arts der New York University flankieren.
Mittlerweile muss er sogar Dia-Bestände von kunsthistorischen Instituten ablehnen, bekennt Goldbach. Sobald er ein Konvolut annehme, wie das des ehemaligen Rektors der Kölner Kunsthochschule für Medien, Hans Ulrich Reck, müsse zunächst Vertrauen im Umgang mit den Dias aufgebaut werden. Denn oftmals stellt das über Jahrzehnte aufgebaute Archiv eine Art Lebenswerk dar. Das in einem Hinterhof gelegene Atelier, welches der in Köln wohnhafte Künstler vor anderthalb Jahren bezogen hat, bietet noch genügend Platz zur Lagerung der bisherigen und auch weiterer Bestände.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Goldbach sich in seiner Arbeit auf Bestehendes und darüber hinaus auf die Kunstgeschichte bezieht. So bannte er 2019 mithilfe einer mobilen Dunkelkammer Lichtarbeiten des Düsseldorfer Künstlers Ferdinand Kriwet (1942-2018) auf Fotopapier. Die von farbigem Plexiglas eingefassten Leuchtstoffröhren manifestierten sich in invertierter Farbigkeit auf den Fotogrammen. Ein anderes Mal beschäftigte er sich mit den ikonischen zerschnittenen Leinwänden des Künstlers Lucio Fontana. In der Sammlung des Centre Pompidou entwickelte er Fotogramme aus eben jenem Licht, das durch die erwähnten Schnitte dringt.
Wir sind es heute gewohnt, riesige Mengen an Daten zu erfassen, ohne ein Gefühl für deren Materialität, Volumen und Gewicht zu habenPhilipp Goldbach
Erst kürzlich stellte Goldbach zudem mit darktaxa-project im Düsseldorfer Projektraum des Deutschen Fotoinstituts aus. Bei darktaxa handelt es sich um eine 2019 von Künstler Michael Reisch ins Leben gerufene Arbeits- und Diskursplattform an der Schnittstelle von Fotografie und digitalen bildgebenden Verfahren, der Goldbach von Beginn angehört. Die dort präsentierte Arbeit »Festwertspeicher« ist gerade ins Atelier zurückgekehrt. Eigenhändig baute Goldbach eine etwa ein Quadratmeter große Speicherplatine. Sie bietet Platz für 2.288 Buchstaben, welche in binärer Form (Ketten aus Nullen und Einsen) abgespeichert werden. Ein angeschlossener Computer liest die Matrix aus und übersetzt den Code zurück in Text. Dabei handelt es sich um eine Schrift des Wissenschaftlers John Wilkins, der im 17. Jahrhundert die Möglichkeit einer Universalsprache diskutierte.
Anhand der materiellen Vergrößerung lässt sich laut Goldbach die digital gespeicherte, abstrakt technische Information viel besser verstehen. Was nach einer konzeptuellen Arbeit des Künstlers und Kunsthistorikers in Personalunion klingt, erweist sich als ansprechendes Gewebe aus sinnlich glitzernden Materialien.
Wie mannigfaltig das Vokabular Goldbachs ist, zeigt sich bei den »Mikrogrammen«, die er seit 2005 anfertigt. Hier bannt er ganze Bücher auf jeweils ein einziges Blatt. Kaum zu glauben ist es, dass er die winzigen, nur wenige Millimeter hohen Buchstaben mit dem Bleistift von Hand schreibt. Zur Ansicht holt Goldbach ein Mikrogramm von Vilém Flussers »Ins Universum der technischen Bilder« hervor. Ungefähr drei Wochen transkribierte er in mühevoller Fleißarbeit ganztägig Flussers Publikation Wort für Wort. Zuletzt widmete er sich in einer kürzlich auf der Art Basel gezeigten Arbeit Jane Goodalls »In the Shadow of Man«. Wem diese Werke noch immer zu verkopft sind, hätte umso mehr Freude am 2021 im Kölner Off-Space kjubh ausgestellten »Dance Floor« gehabt. Wie der Titel vermuten lässt, durfte hier zu Musik der 1970er-Jahre bis heute auf leuchtendem LED-Boden getanzt werden. Die ausgelassenen Besucher*innen bewegten sich auf 7.680 kunsthistorischen Dias. Jeder Song wies außerdem einen Bezug zur bildenden Kunst auf.
Worauf dürfen wir uns als Nächstes freuen? Nicht alles im Goldbach-Archiv hat bisher Verwendung gefunden. So dokumentierte der Künstler noch während seines Studiums ein Jahr lang die tägliche Wettervorhersage in der ARD auf Kassetten, die sich gemeinsam mit den originalen Beta-Kassetten des Hessischen Rundfunks im Atelier stapeln.
Die Aufnahmen feiern im nächsten Jahr ihr 20-jähriges Jubiläum. »Das wäre ein guter Anlass, mit den Kassetten weiterzuarbeiten«, erzählt Goldbach. An Ideen und Material mangelt es dem Künstler noch lange nicht.
Reisetipp: »Philipp Goldbach — Training Images«, H2-Zentrum für Gegenwartskunst im Glaspalast, Kunstsammlungen und Museen Augsburg, 19.7.–12.1.2025, Di–So 10–17 Uhr, Mo geschlossen