»Schwankende Kanarien« von Judith Schalansky
Kipppunkte sind jene Momente, in denen Ökosysteme unwiderruflich kollabieren und eine Reaktion der totalen Verwüstung folgt. Im Sommer 2022, dem niederschlagsärmsten seit Wetteraufzeichnung, in dem es in der Oder zu einem massenhaften Fischsterben kommt, schreibt Judith Schalansky diesen Essay. Es ist eine Art Selbstbefragung, in der sie den »canaries in the coal mine« folgt, singenden »Miniaturkassandras«, die man als Frühwarnsysteme für Kohlenmonoxid unter Tage mitnahm und die heute als Worthülse die Sprache bevölkern: verhungernde Seekühe an der Küste Floridas, pazifische Inselstaaten, in deren prekärer Situation die eigentlichen Verursacher:innen der Krise bloß ihr eigene bedrohte Zukunft vorweggenommen sehen, und tausend Tonnen tote Fische.
»Wenn das menschliche Leben keine Tragödie werden sollte, dann braucht es doch eine Lösung, einen Wendepunkt der Handlung«, schreibt Schalansky. Von ihrer Expedition kehrt sie ohne Trophäe zurück, die Stärke des Essays liegt in der Aufmerksamkeit, die er all den Verlorenen und Ausgerotteten widmet, und mit der er ausgehend von Ursula K. Le Guins Tragetaschentheorie des Erzählens all dies behutsam einsammelt, zählt und erzählt.
Verbrecher Verlag, 72 Seiten, 14 Euro