Kollektiv am Controller
Mitte August werden wieder Tausende Gaming-Fans in die Messehallen pilgern, um auf der Gamescom die neuesten Videospiele zu spielen. Influencer:innen werden Videos drehen, die Politik die Bedeutung der Branche als größte Unterhaltungsindustrie der Welt hervorheben. Aber in den vergangenen 18 Monaten haben mehr als 20.000 Menschen ihre Jobs dort verloren. Es ist die größte Krise der Gamesbranche seit den frühen 80er Jahren.
Gründe dafür gibt es viele. Nach dem Boom der Pandemie-Jahre wird weniger gespielt. Die Entwicklung von großen Videospielen ist aufwändiger geworden und dauert länger, während die Zinsen für die dafür notwendigen Kredite gestiegen sind. Und zugleich fand in der Branche eine Konzentration statt: Große Firmen wie Microsoft, Tencent oder Electronic Arts haben viele Gaming-Studios übernommen und dann als erstes Stellen abgebaut.
»Wir wollen gar nicht wachsen«, sagt dagegen Yannick Berthier. Er arbeitet als Programmierer und Game-Designer bei Motion Twin, einem Gaming-Studio aus Bordeaux. Groß ist es nicht: Neben Berthier sind dort noch sieben andere Menschen beschäftigt. Sie schreiben Code, machen Musik oder zeichnen Grafiken. Ihre Entscheidungen treffen sie demokratisch, Hierarchien und Gehaltsunterschiede gibt es nicht. Motion Twin ist eines der wenigen Kollektive in der Branche. »Unsere Struktur ist so ungewöhnlich, dass die meisten erst mal geschockt sind, wenn sie davon hören«, erzählt Berthier. »Erst vor zwei Tagen hatte ich einen Talk mit einer chinesischen Firma, die uns kaufen wollte. Denen musste ich erst mal erklären, dass das rechtlich überhaupt nicht möglich ist.« Ist in Frankreich eine Firma einmal als Kollektivbetrieb registriert, müsste vor einem möglichen Verkauf der Staat eine Umwandlung in eine andere Gesellschaftsform genehmigen — ein besonderer juristischer Schutz, um selbstverwaltete Betriebe zu unterstützen.
Besonders viele Hintergedanken hatte das Team von Motion Twin aber nicht, als das Studio 2001 von drei Freunden gegründet wurde, die alle noch zur Schule oder Uni gingen. »Alle drei sind super intelligent, niemand von ihnen konnte etwas besser als die anderen«, erzählt Yannick Berthier. »Es hätte also keinen Sinn gemacht, wenn einer den anderen gesagt hätte, was sie tun sollen.« Berthier arbeitet seit 2020 bei Motion Twin, vorher war er Lead Game Designer bei Gameloft, einer Branchengröße für Smartphone-Spiele. Während der Corona-Pandemie suchte Berthier einen neuen Job und stieß auf eine Stellenanzeige von Motion Twin. Besonders häufig kommt das nicht vor. Das Kollektiv hatte im Verlauf seiner Existenz niemals mehr als dreizehn Mitglieder. »Ich war nervös, mich zu bewerben«, so Berthier. »Ich hatte zwar Spiele designt, aber wenige Erfahrungen damit, auch am Programmcode zu arbeiten.« Beworben hat er sich dennoch. »Ich liebe die Spiele von Motion Twin, die Leute haben unglaublich viel Talent«, sagt Berthier. »Die Frage, wie das Studio organisiert ist, hat für mich hinten angestanden.« Der Umstieg aus einem hierarchisch organisierten Spielestudio sei ihm anfangs schwer gefallen: »Viele der professionellen Skills, die ich gelernt habe, spielen in unserer vertikalen Organisationsform keine Rolle mehr«. Ein Verlust sei das für ihn nicht, im Gegenteil. Begeistert erzählt Berthier, wie eng er mittlerweile an der Entstehung eines Spiels beteiligt ist, anstatt die Arbeit eines Teams organisieren zu müssen.
Am Ende entscheidet sich am Controller, ob eine Idee funktioniert
Yannick Berthier
Alle acht Mitglieder von Motion Twin verdienen das gleiche Gehalt, und es ist selbst in der Spielebranche konkurrenzfähig. »Ich habe zwar etwa 30 Prozent meines Lohns eingebüßt, aber nur, weil ich vorher eine Führungsposition innehatte«, meint Berthier. Für Einsteiger:innen oder Leute, die in typischen Studios niedriger in der Hierarchie stehen, sei ein Einstieg bei Motion Twin jedoch mit einem besseren Einkommen verbunden. Macht das Studio Gewinne, werden diese zum Teil ausbezahlt und zum Teil zurückgelegt, um so Kapital für die Entwicklung neuer Spiele zur Verfügung zu haben. Und Gewinne hat Motion Twin in den vergangenen Jahren viele gemacht. »Dead Cells«, das bislang letzte Spiel, hat sich mehr als 10 Millionen Mal verkauft — trotz seines hohen Schwierigkeitsgrads. Man muss die Hauptfigur, den »Prisoner« über eine Reihe von 2D-Levels aus einem Gefängnis führen. Die technisch wenig anspruchsvolle Pixelgrafik von »Dead Cells« täuscht dabei darüber hinweg, wie viel Geduld und Taktik nötig ist, um die knackigen Bossfights zu gewinnen.
»2015 stand Motion Twin kurz vor der Pleite«, sagt Yannick Berthier. Der Umsatz mit Internetspielen, mit denen das Studio bekannt geworden war, ging stark zurück. Auf dem damals neuen Markt für Smartphone-Spiele konnte sich Motion Twin nicht etablieren: »Das Team hat sich dann entschlossen, ein Spiel zu machen, das es schon immer machen wollte: anspruchsvoll, für Hardcore-Spielende und für Konsolen.« Mittlerweile wird »Dead Cells« von einem externen Team betreut, damit sich der Kern von Motion Twin auf das nächste Projekt konzentrieren kann: »Windblown«.
Auch dabei soll sich hinter der knuffigen Grafik ein Spiel verstecken, das viel Geschicklichkeit am Controller verlangt. Das Design entsteht dabei in enger Zusammenarbeit der Mitglieder des Teams, die alle ein Mitspracherecht haben. Zu langen Diskussionen komme es trotzdem nicht, sagt Yannick Berthier: »Wir können sehr schnell einen spielbaren Prototypen des Spiels programmieren.« Der wird dann im Team oder von befreundeten Designer:innen getestet, und das Feedback wird eingearbeitet. »Am Ende entscheidet sich am Controller, ob eine Idee funktioniert«, meint Berthier.
Wenn alles gutgeht, soll »Windblown« noch in diesem Jahr erscheinen. Die Endphase einer Videospielentwicklung ist in den meisten Fällen von langen Arbeitstagen mit vielen Überstunden, dem sogenannten Crunch, gekennzeichnet. Schließlich müssen bis zuletzt noch Bugs und Features gefixt werden. Wie geht ein selbstorganisiertes Studio wie Motion Twin damit um? »Wir alle führen ein persönliches Arbeitszeitkonto«, sagt Yannick Berthier. »Außerdem achten wir darauf, dass sich niemand krankarbeitet.« Wer eine Auszeit nötig hat — egal, ob wegen pflegebedürftiger Angehöriger, Kindern oder der eigenen Gesundheit — nimmt sie sich. Im Team herrsche Vertrauen. »Wir tun das nicht aus übergeordneten politischen Gründen«, sagt Yannick Berthier. »Sondern weil es das Richtige ist.«