Man darfniemals moralisieren

Frauke Mahr ist Pionierin der Mädchenarbeit in Köln, nun ist sie in den Ruhestand gegangen. Ein Gespräch über Tradwives, geschlechtliche Vielfalt und die Frage, ob Mädchenarbeit noch zeitgemäß ist

Frau Mahr, Sie haben sich 33 Jahre lang der Mädchenarbeit gewidmet. Was waren zu Beginn die Themen?

Sexualisierte Gewalt war von Anfang an das zentrale Thema, aber es hatten immer auch »normale« Themen Platz, etwa der erste Liebeskummer. Oder, wenn es hieß: Mein Bruder muss weniger im Haushalt machen als ich — klar, das ist vergleichsweise kein Weltuntergang, aber es ist trotzdem wichtig, dagegen anzugehen. Neben Beratung hat die Lobby für Mädchen immer auch Freizeitaktivitäten, Bildung und für kurze Zeit auch Unterbringung angeboten. Dazu kam die Konzeptarbeit, die politische Durchsetzungsarbeit, die Öffentlichkeitsarbeit.

Haben die Mädchen heute andere Probleme als früher?

Heute spielen die Sozialen Medien eine große Rolle. Die Inhalte sind nicht neu, aber die Darstellungsformen, und wer dabei mitmischt. Mobbing gab es schon immer. ­Themen sind nach wie vor auch Gewalt, sexu­alisierte Gewalt, Essstörungen, Schönheitsideale, Konflikte mit den Eltern oder Gleichaltrigen. Nach Corona hat sich die Einsamkeit sehr verstärkt. Und eines ist wirklich neu: dass die Frage nach der geschlechtlichen Identität derart großen Raum eingenommen hat.

Ist die Aufteilung in Mädchen- und Jungenarbeit angesichts der Debatten über Geschlech­teridentität überhaupt noch zeitgemäß?

Diese Debatte ist seit drei oder vier Jahren zu einem Hype geworden. Es ist gut, dass das Thema Aufmerksamkeit bekommt, dass die Menschen Unterstützung finden. Problematisch finde ich, wenn wenig Analyse und kritisches Hinterfragen da ist. In bestimmten Entwicklungsphasen ist es ja normal, sich zu fragen: »Wer bin ich? Was will ich? Was kann ich sein?« In der Debatte geht auch unter, dass Transitionswillige zu 60 bis 70 Prozent Personen sind, die bei der Geburt den Körper eines ­Mädchens hatten.

Wenn gerade bei ihnen der Transitionswunsch so viel stärker ist, müssen wir uns mit den Ursachen beschäftigen. Aber statt diese Debatte zu führen, wird überall ein Sternchen drangehängt. In manchen Texten taucht das Wort Mädchen oder Frau gar nicht mehr auf! So kommen wir nicht weiter, schon gar nicht im Sinn der Menschen, die betroffen sind. Die brauchen die beste Begleitung, um auf einen glücklichen Lebensweg zu kommen.

Was denken Sie, warum fühlen sich so viel mehr als Mädchen gelesene Kinder im falschen Körper?

Das dürfte stark damit zusammenhängen, dass Mädchen erleben, dass sie benachteiligt sind, dass sie stärker von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Ich finde es wunderbar, Frau zu sein. Trotzdem hast du oft die Arschkarte.

Man könnte auch die These aufstellen: Sie sind mutiger.

Es wäre spannend, dem nachzugehen! Aber wer es wagt, danach zu fragen, gilt schnell als transfeindlich. Es gibt ja Ärztinnen und Ärzte, die viel mit Transition gearbeitet haben, denen mittelfristig Zweifel kommen, ob man zu schnell war mit medizinischen und pharmazeutischen Maßnahmen. Dass man vielleicht nicht genug Zeit gegeben hat und nicht ergebnisoffen war, um zu gucken: Was spielt bei diesen Menschen eine Rolle?

Manche sagen, jetzt müsse es mal um die Jungen gehen. Sie seien in der Schule benachteiligt, weil Erziehung und Bildung durch das Personal stark weiblich geprägt seien.

Das ist Unsinn. Dass mehr Frauen unterrichten, bedeutet nicht, dass Mädchen stärker wahrgenommen und unterstützt werden. Und die ersten, die »Bitte, macht Jungenarbeit!« gefordert haben, waren wir Frauen von der Mädchenarbeit. Vor Jahrzehnten schon haben wir Papiere dazu geschrieben. Es war immer klar: Es muss an beiden Stellen etwas passieren. Leider gibt es noch immer zu wenig Pädagogen, die ihre Männerrolle reflektieren und den Jungen als Identifikationsfigur ein echtes Angebot machen können.

Der alltägliche Sexismus ist heute nicht weniger geworden. Aber er wird nicht mehr geleugnetFrauke Mahr

Ist der alltägliche Sexismus weniger geworden, hat die Gesellschaft dazugelernt?

Er ist nicht weniger geworden, aber er wird nicht mehr geleugnet, und es wächst die Möglichkeit, über Belästigungen oder Übergriffe zu reden. Bei Gesprächen im Sozialamt zum Thema Gewalt gegen Frauen vor 33 Jahren hieß es, wir sollen erst mal Zahlen bringen. Wir hatten Frauen in unseren Wohnungen untergebracht, damit sie eine Chance hatten, zu überleben — und wir sollten Zahlen bringen! So dumm würde die Politik heute nicht mehr argumentieren. Aber wenn es darum geht, wie viel finanziell bereitgestellt wird, um Benachteiligungen oder Gewalt gegen Frauen anzugehen, hat sich so viel nicht getan. Wir haben immer noch nur zwei autonome Frauenhäuser in Köln, obwohl wir drei bis vier bräuchten.

Warum ist der Etat so klein?

Die Politik kann sich darauf verlassen, dass die Öffentlichkeit nicht mehr Druck macht. Deshalb brauchen wir Strukturen, um die Gleichberechtigung, die uns gesetzlich zugesichert ist, in Gleichstellung zu verändern.

Sie fordern seit Jahren einen Fachbeirat für Mädchenarbeit. Warum?

Der Fachbeirat als kommunalpolitisches Steuerungsinstrument soll den Jugendhilfeausschuss beraten und Fachtagungen zu speziellen Themen machen. Damit wäre das Thema strukturell verankert und würde verbindlich. Das ist etwas anderes, als bei Problemen mal bei uns nachzuhören, wie es jetzt geschieht. Der Jugendhilfeausschuss hat sich 2020 einstimmig dafür ausgesprochen, doch der Stadtrat muss ihn noch beschließen, und das gehört wohl zu den Dingen, die nach hinten rutschen. Deshalb habe ich mich zum Abschied aus meinem Berufsleben vors Rathaus gestellt mit meinem Offenen Brief. Der Ratsbeschluss wäre eine klare politische Aussage und Entscheidung für Gleichstellung in der Jugendarbeit.

Wie zeigt sich die Benachteiligung von Mädchen heute im Vergleich zu vor 30 Jahren?

Zum Glück sagt keiner mehr so schnell: »Sie hat einen kurzen Rock an, sie wollte das ja so.« Aber die Tendenz, Mädchen in die Verantwortung für ihre eigene Sicherheit zu nehmen und sie in ihrer Freiheit einzuschränken, gibt es noch immer. Die Seite, die fragt, was wir als Gesellschaft tun müssen, damit sich etwas ändert, fehlt noch immer.

Auf Social Media polarisieren derzeit Trad­wives, die Sauerteigbrote für ihre Familie herstellen, statt einer Lohnarbeit nachzugehen. Wie sprechen Sie mit Mädchen darüber?

Man darf niemals moralisieren, sondern sollte dazu einladen, genauer hinzugucken, das vermittelte Rollenbild weiterzudenken mit seinen Konsequenzen: Was heißt es für dein Leben im Alter, wenn du nicht erwerbstätig warst, von welchem Geld willst du leben?

Es wird oft gesagt, die Jugend sei unpolitisch geworden.

Ich muss lachen, wenn sich Frauen meiner Generation empören, wofür sie den feministischen Kampf gekämpft haben, wenn die jungen Frauen das heute nicht dankbar annehmen. So ein Blödsinn! Ich habe den feministischen Kampf gekämpft, weil es meine innere Überzeugung war und ist, und weil ich etwas ändern wollte! Es klingt immer so, als seien wir 1975 unglaublich politisiert gewesen. Aber das war nur ein kleiner Teil. Junge Frauen und Männer sind heute mit vielen anderen Dingen konfrontiert. Vielleicht ist der politisierte Teil unter ihnen sogar größer als damals.

Zur Person:
Nach dem Sozialpädagogik-Studium arbeitete Frauke Mahr mit einer Gruppe von Studentinnen, Dozentinnen und Bürgerinnen zum Thema Gewalt gegen Frauen. Sie gründete mit anderen den Verein »Frauen helfen Frauen« und die beiden Frauenhäuser in Köln, anschließend arbeitete sie in der Altenhilfe. 1991 wechselte Mahr zur »Lobby für ­Mädchen« und arbeitete dort bis zu ihrem Ruhestand.