Betrunken in der Lesbenbar
Im Zug in die alte Heimat erkennt Sam eine Freundin aus der Schulzeit wieder und sofort kommen Erinnerungen und Emotionen hoch — gute und weniger gute. Die Reise zum Geburtstag des Vaters ist er nur zögerlich angetreten, es ist das erste Mal seit seiner Transition und er hat das Wiedersehen mit seiner Familie lange vermieden. So herzlich sie ihn auch willkommen heißen, kann Sam nicht vergessen, dass das nicht immer so war. Und auch Jugendfreundin Katherine geht ihm nicht mehr aus dem Kopf.
»Close to You« ist der erste Kinofilm des Schauspielers Elliot Page seit 2017 und die überhaupt erste männliche Rolle seit seiner Transition und der im vergangenen Jahr erschienen Autobiografie »Pageboy: Meine Geschichte«. Auch wenn das von Dominic Savage inszenierte Drama manchmal dramaturgisch etwas holpert, ist doch in jedem Moment zu spüren, dass es ein Herzensprojekt ist, von Page mitgeschrieben und -produziert. Eine zweifache Rückkehr, der Figur und des Filmstars, und einer der herausragenden Beiträge des diesjährigen Queerfilmfestivals, das in zehn deutschen Städten und in Wien Station macht. 18 Filme werden in diesem Jahr gezeigt — von Coming-Out-Dramen über Romantikkomödien bis zu Dokumentarfilmen.
Der vielleicht schönste Beitrag kommt aus Belgien. Das Regiedebüt »Young Hearts« erzählt voller Empathie und Lebensfreude vom Erwachen der ersten Liebe. Als ins Haus gegenüber der 14-jährige Alexander einzieht, hat der gleichaltrige Elias plötzlich nur noch Augen für den neuen Freund, traut sich aber erst nicht, zu seinen Gefühlen zu stehen. Das führt nicht zum großen Drama, sondern zu einer hinreißend warmherzigen Lovestory. Vielleicht nicht ganz zufällig: Co-Autor ist »Close«-Regisseur Lukas Dhont.
Einen eher tragikomischen Ton schlägt »Sad Jokes« von Regisseur und Hauptdarsteller Fabian Stumm an (siehe auch S. 52). Filmemacher Joseph hat mit seiner besten Freundin einen kleinen Sohn, um den er sich liebevoll kümmert. Gerade hat er allerdings an der Trennung vom Ex zu knabbern und kommt mit einer neuen Filmidee nicht so recht weiter. Mal absurd witzig, mal anrührend und sehr smart, erweist sich Stumm hier als eine Art schwules deutsches Pendant zu einem Regisseur wie Nanni Moretti. Ebenso selbstreflexiv und selbstironisch ist auch »Der Sommer mit Carmen« aus Griechenland, mit dem Zacharias Mavroeidis eine verspielte, witzige und sehr sexy Bromance-Komödie über zwei Freunde Anfang 30 geglückt ist. Demos und Nikita vertreiben sich die Sonnentage an Athens queerem Strand Limanakia und fantasieren über einen Film, der von Demos’ verflossener Liebe Panos und dessen süßem Hund Carmen handelt.
Ein weiterer Höhepunkt ist der neue Spielfilm von Małgorzata Szumowska und Michał Englert (»Der Masseur«), die in »Frau aus Freiheit« mit epischem Atem von einer trans Frau erzählen, die im repressiven Polen über fünf Jahrzehnte für ein eigenständiges Dasein kämpft. Mit Markus Steins »Baldiga — Entsichertes Herz« findet sich auch ein Dokumentarfilm im Programm. Der gebürtige Essener Jürgen Baldiga, Sohn eines Bergmanns, zog 1979 nach West-Berlin und wurde über zahlreiche Umwege Fotokünstler und AIDS-Aktivist, der bis zu seinem frühen Tod 1993 in tausenden Fotos und 40 Tagebüchern seinen Alltag, Freunde und Lover festhielt.
Aus Österreich kommt mit »What a Feeling« eine feuchtfröhliche Romantikkomödie über zwei Frauen in der Mitte des Lebens und das Wagnis eines Neuanfangs. Frisch von ihrem Mann verlassen, bandelt die Wiener Ärztin Marie Therese ziemlich betrunken in einer Lesbenbar mit der aufregenden, aber bindungsscheuen Fa an.
Mit »The Visitor« verneigt sich der kanadische Queerpunk-Regisseur Bruce LaBruce vor einem seiner großen Vorbilder, Pier Paolo Pasolini, und dessen »Teorema — Geometrie der Liebe« von 1968, in dem ein mysteriöser junger Mann bei einer bürgerlichen Familie auftaucht und nacheinander jedes Mitglied verführt. Längst ist der Skandalfilm zum Klassiker gereift, der sogar für die Opernbühne adaptiert wurde. LaBruce gibt ihm nun ein mit Agitprop aufgeladenes und sehr explizites Update, mit einem Schwarzen Refugee, der in London eine wohlsituierte Familie sexuell befreit, mit allem Drum, Dran und Drin, und ihr bigottes Selbstverständnis infrage stellt. Thomas Abeltshauser
Do 5.9.–Mi 11.9., Filmhaus, Filmpalette. Infos: queerfilmfestival.net