Sicher nicht favorisiert: Schülerin aus einem »Problembezirk«

Favoriten

Ruth Beckermann filmt in einer faszinierenden Langzeit­beobachtung den Alltag einer Wiener Volksschulklasse

 

Dass Ruth Beckermanns neuer Dokumentarfilm »Favoriten« heißt, ist vordergründig mit dem gleichnamigen Wiener Gemeinde­bezirk zu erklären, in dessen Volks­schule die 1952 geborene Österreicherin drei Jahre regelmäßig gedreht hat. Doch im knappen ­Titel schwingt untergründig bittere Ironie mit, denn unter den Schüler*innen der Grundschulklasse, die hier im Zentrum steht, ist gewiss niemand von den sozialen Umständen favorisiert.

Dass die Kinder aus Arbeiter*­in­nenfamilien stammen, erfahren wir früh aus den Antworten, die sie auf die Frage ihrer Klassenlehrerin nach dem jeweiligen Beruf der Eltern geben: Die Väter schuften auf dem Bau, fahren Taxi oder backen Pizza; die Mütter sind, sofern ihre Tätigkeit nicht auf den Haushalt begrenzt ist, Putzfrau oder Krankenpflegerin. Da fehlen die ökonomischen Mittel, um dem Nachwuchs eine private Förderung zu beschaffen — was umso schwerer wiegt, weil nicht zu überhören ist, dass von den Schüler*innen niemand Deutsch als Muttersprache hat.

Umso stärker wären diese Kids auf ein starkes öffentliches Schulsystem angewiesen, dessen Mangelverwaltung uns Beckermann bewusst macht, wenn sie ihre heimliche Hauptfigur, die Klassenlehrerin Ilkay Idiskut, gelegentlich hinter den Kulissen des Schulbetriebs zeigt. Dann ist viel von Stellen die Rede, die soziale Betreuung oder Sprachförderung gewährleisten sollen, aber unbesetzt bleiben.

Umso sympathischer wirken die bodenständige Sensibilität und das handfeste Engagement, mit dem Idiskut systemische Mängel zu kompensieren versucht. Allerdings führt die Fokussierung auf eine vorbildliche Lehrerfigur wie schon bei Maria Speths thematisch verwandtem Film »Herr Bachmann und seine Klasse« in einen Zwiespalt. Die faszinierende Langzeitbeobachtung lässt ahnen, dass einzelne Kinder durchs Raster fallen werden. Die unerbittlich vor Augen geführte Mathematikschwäche einer Schülerin etwa legt den Gedanken nahe, dass Ildi­kut womöglich noch gewissenhafter auf individuelle Probleme eingehen sollte. Doch das ist irreführend. Jedenfalls droht der Gedanke der nüchternen Einsicht im Wege zu stehen, die sich spätestens aus der angedeuteten Seltenheit von Gymnasialempfehlungen für Ildi­kuts Schüler*innen ergeben sollte: dass die Lehrerin unter den gegebenen Verhältnissen gar keinem Kind wirklich gerecht werden kann.
 

A 2024, R: Ruth Beckermann, 118 Min. Start: 19.9.