Die Normalität verlernen
Um 15:03 Uhr am 27. Juli 2000 explodierte die in einer Plastiktüte versteckte, mit TNT gefüllte Rohrbombe. Am S-Bahnhof Wehrhahn in Düsseldorf wurden zehn Menschen zum Teil schwer verletzt. Eine im fünften Monat schwangere Frau verlor ihr ungeborenes Kind. Die Opfer waren als sogenannte »Kontingentflüchtlinge« gerade erst in Deutschland angekommen, viele von ihnen waren Mitglieder jüdischer Gemeinden. Zum Zeitpunkt der Tat befanden sie sich gerade auf dem Heimweg nach einem Sprachkurs. Ein paar Monate später, im Oktober 2000, rief der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den »Aufstand der Anständigen« gegen rechtsextreme, rassistische Gewalt aus, beim Bundesverfassungsgericht wurde ein Verbotsverfahren gegen die NPD eingeleitet — und bis zur Selbstenttarnung des NSU, der laut Ermittlungen diesen Anschlag nicht begangen hatte, sollten noch elf Jahre vergehen.
Doch auch heute, 24 Jahre nach der Tat, nach zwei Ermittlungsphasen, einem Untersuchungsausschuss und einem Gerichtsverfahren, ist die Tat noch immer nicht aufgeklärt — im Gegenteil: Weitere, unzählige Fragen wurden aufgeworfen. War die Polizei auf dem rechten Auge blind? Wurde nicht vehement genug den Spuren in die rechte Szene nachgegangen? Warum wurde den Ermittlungsbehörden nicht mitgeteilt, dass ein V-Mann des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes für einen 2018 aufgrund mangelnder Beweise freigesprochenen Angeklagten in jenem Sommer der Tat gearbeitet hatte?
Das Theaterkollektiv Pièrre.Vers bringt in ihrem Stück »Dunkeldorf« Akteur*innen der Stadtgesellschaft, die auf verschiedene Weise an der Aufarbeitung des Anschlags beteiligt waren und sind, in einem Kammerspiel zusammen. Sogar auf die Shortlist des Theatertreffens 2024 hat das Stück es geschafft — und wird nun erneut aufgeführt beim FAVORITEN Festival in Dortmund. Thematisch passt das gut, denn das Festival hat sich das »Ver-Lernen« zur diesjährigen Programmaufgabe gemacht, also kritisch nachzudenken, Selbstverständnisse und eigene Positionen zu hinterfragen, das Gelernte zu verlernen, weil darauf immer das vermeintlich »Normale« verweist, den Status Quo zu verändern. Performance, Tanz, Installation, Workshops und Diskursformate sollen dabei künstlerisch helfen.
Seit 1985 findet das Theater-, Tanz- und Performancefestival der Freien Szene Nordrhein-Westfalens statt. Es ist bundesweit eines der ältesten Festivals der Freien Darstellenden Künste. Für die Festivalausgaben 2022 und 2024 hat mit Anne Mahlow, Margo Zālīte und Sina-Marie Schneller ein Dreierteam die künstlerische Leitung von FAVORITEN übernommen. Das diesjährige Motto: »(Un)Learning for possible futures — There can be no return to normal, because normal was the problem in the first place«. »Wir wollen das Gelernte unter die Lupe nehmen, schrittweise mit erlernten Gewohnheiten brechen und gemeinsam empowernde Strategien des Wissenstransfers und des Erinnerns erproben, um eine gerechtere Zukunft im Hinblick auf Privilegien, Geschlechterverhältnisse und die Auswirkungen des Klimawandels zu imaginieren«, heißt es in der Ankündigung zum FAVORITEN Festival.
Neben »Dunkeldorf« stehen weitere spannende Stücke auf dem Programm: Das Künstlerinnen-Kollektiv waltraud900 entwickelt mit jungen Darsteller*innen eine Überschreibung der Tragödie »Iphigenie in Aulis«, in der König Agamemnon seine Tochter Iphigenie opfert, um tausende Schiffe und Krieger nach Troja zu bringen. Statt sich zu widersetzen, begrüßt sie ihren Tod. Warum? »Ist es überhaupt möglich, der Familie Widerstand zu leisten?«, fragt waltraud900. Und: »Zu welchen Opfern sind die Töchter der Zukunft bereit und wofür stehen sie nicht mehr zur Verfügung?«
In »Bâtir le Commun«, einer Performance an der Schnittstelle von Tanz, Video und Text, gehen Künstler*innen den unterschiedlichen post-kolonialen Verwebungen zwischen Kamerun und Deutschland nach. In der Hörspiel-Installation »Summen der Gesetze« werden die Wirkmächtigkeit und die Grenzen der Grundrechte aus verschiedenen Perspektiven diskutiert, anschwellende Geräusche der Angst und des Träumens, Originalaufnahmen über die Schönheit und die Probleme des Grundgesetzes, über Rechts- und Unrechtserfahrungen. Und in »Sanctuary of Love« geht es um »radikale Empathie«, angefangen bei einem Initiationsritual, bei dem sich das Publikum gegenseitig die Hände wäscht und anschließend am gemeinsamen Esstisch diverse Speisen serviert bekommt, die zusammen zubereitet wurden, entweder aus Ghana eingeflogen oder von Freund*innen und Familien gekocht. Eine Form der Familie jenseits von Blutsverwandtschaft, ethnischer Zugehörigkeit und gesellschaftlichen Normen soll an dieser Tafel entstehen — eine partizipative Performance, die nicht so sehr nachdenken, sondern eher handeln will.
Ein weiterer spannender Programmpunkt: die »Ost-West / West-Ost Werkstatt«, in der es um Vorannahmen und Stereotypen geht, die auch 35 Jahre nach dem Mauerfall weiterhin in Ost und West bestehen. In Kooperation mit dem Theaterfestival »Der Rahmen ist Programm« aus Chemnitz wollen die Kurator*innen vor dem Hintergrund zunehmender populistischer und rechter Tendenzen in der Gesellschaft zu einem gemeinsamen Austausch anregen, mit Performances, Filmen, Podiumsdiskussionen und Workshops — und einem antirassistischen Fußballturnier.
Wer das FAVORITEN Festival lieber digital begleiten möchte, kann das von zu Hause aus tun: Als digitales Begleitprogramm bringt das Festival einen Podcast heraus, »in dem Menschen unterschiedlicher Hintergründe zusammenkommen und gemeinsam über Lösungen für drängende Fragen nachdenken«, wie Zālīte, eine der Künstlerischen Leiterinnen und Kuratorin des Podcasts sagt. In der ersten Folge, die bei Redaktionsschluss bereits veröffentlicht war, diskutieren Pauli Nafer, Alexis Rodríguez Suárez und Nesrin Tanç über Fragen von Intergenerationalität und Trauma-Arbeit. Welche Diskrepanzen bestehen zwischen Generationen und können durch die Bearbeitung von kollektiven Traumata Brücken geschlagen werden? Am 8. September werden bei einem Symposium im Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund die unterschiedlichen Stimmen der Künstler*innen, Aktivist*innen und Forscher*innen in Workshops und Panels gesammelt und weiter vertieft.
FAVORITEN Festival,
Dortmund, 5.-15.9.2024