Fragen bis an den Grund
Im Prisma des Gedichts leuchten die Fragen nach den Bedingungen des Menschseins in allen Spektralfarben auf. »Bekommst du noch Briefe von Toten? Ich schreibe dir / ins Jahr nach deinem Tod«, sagt das lyrische Ich in »Brief im April« aus Marie T. Martins Gedichtband »Rückruf«. »Wer hat das Wasser gekauft, / die Lungen verpachtet? Das tief / geschnittene Tal eingekerbt? Du / fragst bis an den Grund«, heißt es in »Lichtung«.
Von einer großen Zartheit sind die Gedichte Martins, innig im Tonfall, und das Existenzielle öffnet sich einen Türspalt weit in den konkretesten Dingen. Da sind »Meridiane auf Orangenschnitzen« in den titellosen Gedichten im Band »Wisperzimmer«, und »im Treppenhaus wächst Klee du tauscht / Bleistifte und Tee gegen Bindfaden / Verwunderung gegen Linsen in denen / sich das Licht anders bricht sodass wir / die Beschaffenheit der Dinge sehen / oder ganz andere Augen mit denen / das Sehen ist wie Singen«.
Immer aber bleibt ein irritierender Rest Nichtverstehen in der Art, wie die Dinge bei Marie T. Martin auf den Kopf gestellt oder verdreht und verdichtet sind. Eine gute Nachricht für ein Gedicht vermutlich. Nicht zufällig steht dem Band »Rückruf« Ilse Aichinger Patin, von der Marie T. Martin Motto und eine spezifische poetische Tradition von Konkretion borgt. Die Gegenstände sind bei dieser Dichterin, wie im Gedicht »Gravur«, »mit frischem Schnee gefüllte Traktorspuren, / eine verschlungene Schrift, die mehr verhüllt / als zu zeigen«.
Zwölf Jahre lebte die Schriftstellerin Marie T. Martin in Köln, bevor sie 2020 in ihre Heimatstadt Freiburg zurückzog, wo sie 2021 mit 39 Jahren nach schwerer Krankheit verstarb. Chronologisch präsentiert die Werkausgabe »Der Winter dauerte 24 Jahre« ihre Bücher. Auf ihr erzählerisches Debüt »Luftpost« von 2011 folgt ihr erster Gedichtband »Wisperzimmer« von 2012, anschließend 2015 der Kurzprosaband »Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen?« 2021 veröffentlichte Martin den Gedichtband »Rückruf«, und aus dem Nachlass stammt die titelgebende Prosa-Sammlung »Der Winter dauerte 24 Jahre«. Die Prosapoetik ist eine andere als die der Gedichte, forscher und verspielter im Ton, einem magischen Realismus verpflichtet. Ein Atem weht in diesem Buch, auf Prosa folgt Lyrik wie Luftholen auf Ausatmen. Und so zeigt diese von Hanna Lemke und Andreas Heidtmann herausgegebene Gesamtausgabe Martin als eine Autorin, die nicht an Büchern schrieb, sondern an einem Werk.
Das Herzstück der Ausgabe ist der Band »Der Winter dauerte 24 Jahre«, der noch von ihr selbst zur Publikation vorbereitet wurde. Wieder ein kunstvoll komponiertes Buch, in dem stets »Talisman« überschriebene Kürzesterzählungen über Gegenstände wie einen Armreif, eine Eichelhäherfeder oder ein mit Schnee gefülltes Marmeladeglas alle paar Seiten wiederbegegnen wie ein Refrain in einem Lied, unterbrochen von Strophen. Die Miniaturen greifen auf etablierte Erzählformen, teilweise aus der Welt der Ökonomie, zurück. Listen und an Märchen erinnernde Stücke sind unter den Texten, Erläuterungen von Wendungen einer erfundenen Mundart und Briefe, es gibt »Korrespondenzen aus der Abteilung für Balsam & Heilung« und Texte aus der »Praxis für Transformation«, »Automatische Antworten« und »Neue Seminare bei P&P«. Dort im Angebot ist der Kurs »Workflow? No No!«, und »in diesem Seminar lernen Sie, Anfragen zu überhören, den Informationsfluss zu stoppen, Hierarchieebenen zu ignorieren und Fehler zu wiederholen«. Geklammert sind die Texte aus »Der Winter dauerte 24 Jahre« von der poetischen Haltung eines existenziellen Dementis des bilanzierenden Lebens, in dem man aufrechnet und abwägt wie ein Buchhalter, in dem man gut genug ist oder nicht. Eine Verneinung, die ihre Dringlichkeit gewinnt auch im Gestus des Ansprechens, denn häufig adressiert diese Prosa ein Du oder ein Sie, aber wiederum in einer großen Gelassenheit, einem lockeren Parlando, unterhaltsam.
In den eingestreuten »Briefen aus Immerwald« heißt es einmal: »Ich glaube, es gibt keine Zeit. Jedenfalls keine lineare. Ich glaube, die Zeit ist eher wie eine Kugel, auf der man in alle Richtungen gehen kann.« Auf eine solche Kugel führen die Prosa und die Gedichte des Bandes. Welch Glück, dieser lange Winter Marie T. Martins.
Marie T. Martin: »Der Winter dauerte 24 Jahre. Werke und Nachlass«, poetenladen, 432 S. 32,80 Euro