Rap-Trio Kneecap: F*** dich ins Knie, Establishment!, © Kory Mello (Obscured Pictures)

Applaus für den Mittelfinger

Das Film Festival Cologne bleibt sich treu und lässt es krachen

Die Klienten der Anwältin Rita Moro Castro sind Schwerverbrecher — graue Eminenzen mexikanischer Drogen-Clans. In diesen Kreisen hakt man den Auftragsmord an der Ehefrau schon mal als Suizid ab. Schlecht bezahlt wird Rita für die dreckige Arbeit obendrein. Als Narco-Boss Manito seinen Ausstieg plant und Rita darum bittet, alle Spuren zu verwischen, sieht sie in dem Angebot die Chance für einen Neubeginn. In »Emilia Pérez« erzählt Jacques Audiard vom Drogenbandenkrieg in Mexiko in einer Mischung aus Sozialdrama, Musical und Telenovela. Im Mittelpunkt eine trans Figur, die ihre gewalttätige Vergangenheit als Gangster hinter sich lassen will. Was irre klingt, funktioniert überraschend gut. Auch weil Audiard mit den Musical-Elementen weit mehr anzufangen weiß als etwa die aktuelle »Joker«-Neuauflage mit Lady Gaga.

»Emilia Perez« erhielt in Cannes den Jurypreis und der Schauspielpreis ging an das Frauenensemble um die spanische trans Schauspielerin Karla Sofía Gascón, Zoe Saldaña, Adriana Paz sowie Selena Gomez. Als einer der herausragenden Beiträge des diesjährigen Film Festival Cologne steht er auch für dessen Prinzip: Neben einem Fokus auf Produktionen aus NRW im Wettbewerb, zeigt man viele internationale Filme und Serien, sucht die Zusammenhänge von Pop und Politik. In der Reihe Best of Cinema Fiction konzentriert man sich dabei auf Filme aus den Line-ups von Cannes und Venedig.

Eine trans Figur will ihre Vergangenheit als Gangster hinter sich lassen. Was irre klingt, funktioniert überraschend gut

So zeigt man »Die Saat des heiligen Feigenbaums« von Mohammad Rasoulof, der im Mai aus dem Iran fliehen musste und inzwischen in Deutschland lebt. In seinem Drama seziert er das Willkürregime seiner Heimat anhand des Mikrokosmos einer Familie. Zugleich zeigt er den Widerstand einer jungen, weiblichen Generation. Auch formal sticht Rasoulofs Film hervor — die mehrheitlich aus Deutschland finanzierte Produktion geht als deutscher Beitrag ins Oscar-Rennen.

Payal Kapadia erzählt in »All We Imagine As Light« von der Solidarität dreier Frauen, die im Krankenhaus von Mumbai arbeiten. Die 38-Jährige schildert unaufgeregt und subtil ihren Alltag und führt so auch die sozialen Unterschiede und Normen vor Augen. Kapadia deutet eher an, als dass sie ausbuchstabiert, und erhielt für ihren zweiten abendfüllenden Spielfilm — als erste indische Regisseurin überhaupt im Wettbewerb von Cannes — mit dem Grand Prix gleich die zweitwichtigste Auszeichnung.

Deutlich düsterer ist Magnus von Horns Schwarzweißdrama »Das Mädchen mit der Nadel« — aber Arbeitsverhältnisse spielen auch hier eine übergeordnete Rolle. Die junge Näherin Karoline aus Kopenhagen hat kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs eine Affäre mit ihrem Chef. Der verlässt sie, als sie ein Kind von ihm erwartet. Karoline lernt die charismatische Dagmar kennen, die ihr anbietet, Pflegeeltern für das Ungeborene zu finden. Karoline beginnt für Dagmar zu arbeiten und entwickelt auch bald eine sehr enge persönliche Bindung. Doch dann entdeckt sie die Wahrheit hinter Dagmars illegaler Adoptionsagentur. Von Horns Sozialschocker basiert auf der realen Geschichte einer Serienmörderin.

Für die traditionell starken popkulturellen Bezüge beim Film Festival Cologne steht beispielhaft Andrea Arnolds fantastische Coming-of-Age-Geschichte »Bird«. Aber der sozialrealistische Aspekt fällt auch hier nicht unter den Tisch: Die 12-jährige Außenseiterin Bailey lebt mit ihrem unreifen Vater in einer englischen Kleinstadt, wo sie sich mit einem komischen Vogel namens Bird anfreundet, den womöglich nur sie allein sehen kann. Arnold verbindet die harte Wirklichkeit ihrer Hauptfigur mit einer magischen Ebene, die bis zuletzt rätselhaft bleibt und gerade dadurch großen Reiz entwickelt. Der Score stammt vom britischen Dubstep-Projekt Burial. Auch das Elektro-Punk-Duo Sleaford Mods ist zu hören, Sänger Jason Williamson spielt im Film eine Nebenrolle.

Ordentlich krachen lässt es auch Regisseur Rich Peppiatt mit »Kneecap«, dem halbfiktionalen Biopic über das gleichnamige Rap-Trio aus Belfast. Film und Band lassen keine Party und keinen Drogentrip aus und zeigen dem britischen Establishment den Mittelfinger. Dafür gab es beim Sundance Film Festival im Januar den Publikumspreis.

Film Festival Cologne, Do., 17.10.–Do., 24.10, Das komplette Programm unter filmfestival.cologne