Von Cowboys und Fragmentaristen
Nachdem Clemens Meyers »Projektoren« Bilder einer unter dem Eis der Donau von Novi Sad treibenden Leiche, ermordet 1942 von der deutschen Wehrmacht, auf die Leinwand dieses kolossalen Roman-Epos gespielt haben, schicken sie Lex Barker, den Old Shatterhand-Darsteller, in einer theatralen Episode ins kroatische Velebit-Gebirge zum Dreh einer Karl-May-Verfilmung, später deutsche Neonazis in die Schlachten der Jugoslawienkriege, die in den 90er Jahren an ebenjenen Drehorten toben. Dann wiederum listet der Roman »zweihundertdreiundneunzig Sätze über Winnetous Reise nach Wounded Knee im März 1973, als die Gedenkstätte von Aktivisten des American Indian Movement besetzt gehalten wurde, um Amerika und die Welt an die Missstände in den Reservationen und die zweihundertdreiundneunzig Opfer des Massakers von 1890 zu erinnern«, so der Titel eines der Kapitel. »Es war einmal ein Mann«, so beginnt märchenhaft eine Episode über »Cowboy«, einen durch die Kapitel wandernden Mann, versehrt und verstrickt zugleich.
Die hybriden Erzählformen und die Montage in Meyers neuem Roman sind wie der Gang in der »Irren-Hilfs-Heil- und Pflegeanstalt des Dr. Güntz zu Leipzig-Thonberg«, die in der Fiktion nicht 1920 schließt, sondern zum Schauplatz der Gegenwart wird, über den ein Dr. Dulle einen Mister Smith führt, »der Gang bewegt sich wie eine immer enger werdende Röhre ins Unendliche hinein, ein Fernrohr, zusammenschiebbar, auseinanderziehbar«. Ständig überblenden sich in diesem Text die Szenen und die Zeiten. Einer der Insassen der Anstalt ist der Fragmentarist, der »erzählt und erzählt und beschriftete die Wände«. Ein anderer soll Karl May gewesen sein.
Kaum zu glauben, welch stoffliche Verdichtung die literarischen Einfälle der »Projektoren« bewerkstelligen, auch wenn sie dafür den Aufwand von 1056 Seiten betreiben. Es ist dies aber auch eine enzyklopädische Verdichtung, die den Roman stellenweise auf des Messers Schneide zwischen Literatur und historischem Referat wandeln lässt, denn laufend möchte man den Browser öffnen und in der Suchmaschine die nächste historische Person nachschlagen, über die man soeben hinweggelesen hat.
»Die Projektoren« verlangen einem alles ab. Aber wenn man in diesem Romangebirge lesend wandert und sich die steilen Anhöhen von Clemens Meyers Montage hinaufschleppt, warten grandiose Ausblicke in die Kontinuitäten europäischer Gewaltgeschichte, die man aus dieser literarischen Höhe bisher kaum gelesen haben dürfte.
Clemens Meyer: »Die Projektoren«, Fischer, 1056 S., 36 Euro
Di 1.10., Literaturhaus Köln, 19.30 Uhr