Melike Kara in ihrer ­Ausstellung ­»Shallow Lakes«, Anfang des Jahres in der Frankfurter Kunsthalle Schirn, courtesy: Melike Kara, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Jan Kaps/Köln. Foto: Mareike Tocha

Aus der Diaspora

Die Bilder und Installationen der Kölner Künstlerin Melike Kara öffnen ein Archiv des kurdischen Lebens

Gleich zu Beginn dieses Jahres konzipierte Melike Kara einen Ort des Erinnerns in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt: Anlässlich ­ihrer Einzelausstellung »Shallow Lakes« verwandelte sie den Innen- und Außenbereich der Rotunde der Schirn zu einer Agora, wo sie Identität, Migration und deren Sichtbarkeit verhandelte. Ihre Mittel: fotografische Collagen, Skulpturen und Malereien — bodennahe Bassins mit roséfarbenen Flächen und darin verwobener ornamenta­ler Objekte gaben wie der moment­hafte Einfall einer Spiegelung auf einer Wasseroberfläche durchscheinende Bilder frei.

An meterhohen Skulpturen, die Pavillons glichen, wehten hauchfeine Tücher mit fotografischen Ansichten: Bilder, auf denen Frauen und Männer lächeln; karge, weite Felder; eine Herde Ziegen, die durch eine schmale Straße treibt, vorbei an Strommasten mit freihängender Verkabelung; dann historische Zeichnungen — ein Gruß aus einem Anderswo. Von den Glasscheiben der Rotunde aus fielen Blicke großformatig reproduzierter Frauengesichter von innen in den Hof, als schauten sie aus der Tiefe eines Gewässers. Zwischen ihnen schienen groß­formatige Malereien hervor, berührt und getragen von wand­füllenden Collagen, deren Assemblage von Menschenbildern, allegorischen Figuren und Gegenständen berichteten. Zugrunde liegt diesen Bildern Melike Karas Auseinandersetzung mit ihrer kurdischen Geschichte und ihr Wunsch, das Inhomogene der vielfältigen Volksgruppe der Kurden, der ihre Großeltern entstammten, in ihrer künstlerischen Arbeit zu reflektieren.

Melike Kara, 1985 in Bensberg geboren, lebt und arbeitet in Köln und ist seit ihrer Kindheit eng mit dem Rheinland verbunden. Ihre Begeisterung für die Kunst wurde im Kölner Museum Ludwig geweckt, später studierte sie Malerei an der Kunstakademie Düsseldorf. Aus ihrer Reflexion über kulturelle Mehrfachzugehörigkeit hat Kara 2014 begonnen, ein fotografisches Archiv zur kurdischen Diaspora anzulegen, das zunächst auf Fotografien aus privaten Beständen basierte. Da es (noch immer) kein derartiges institutionelles Archiv gibt, führte sie ihre Sammlung von Fotografien aus der eigenen Familie und von Freunden fort und ergänzt diese fortlaufend um gefundene Bildmaterialien. Anstelle von Sprache, Gestik und Symbolik zur Überlieferung von Wissen, fokussiert Melike Kara mit ihrer Sammlung auf eine die Sprachen und Dialekte übergreifende und einander verbindende Visualität. Karas Sammlung umfasst Fotografien, die die Schönheit des alltäglichen Lebens und die Geschichte der kurdischen Gemeinschaft zeigen, etwa in Ritualen, Zeremonien, Porträts von Ahn*innen oder Landschaftsaufnahmen. Kara arbeitet an einer Erinnerungskultur, die auf die Vielfältigkeit des Visuellen abzielt und der sie durch die Verwendung dieser Bilder in ihren Arbeiten Ausdruck verleiht.

Für ihre großformatigen, halbtransparenten Fotocollagen auf Textil etwa assembliert sie fotografische Bilder, bearbeitet sie zuvor mit Bleiche, Acrylfarbe oder Latex, sodass die Bilder nur partiell sichtbar sind: Das von Kara evozierte Verschwommene des Bildes spiegelt für die Künstlerin das Fragile kurdischer Identität. Doch schenkt sie anhand der verhangenen Sichtbarkeit des Dargestellten, durch das Blicke wie durch Schleier hindurchfallen, Raum für die Imagination und Präsenz eigener Erinnerungen.

Insbesondere diesem Aspekt hatte sie sich im Sommer in ihrer Einzel­ausstellung »Chanting« in der Kölner Galerie Jan Kaps zugewandt. Neben vielzähligen großformatigen Malereien gewann die gleichnamige Rauminstallation eine zentrale Rolle: ein von Kara eingerichteter Ort des Heiligen, der dem Erinnern und inneren Einkehren gewidmet war. Melike Kara konzipierte eine begehbare architektonische Struktur, deren Wandinnenseiten Steine und kurdische Ornamente trugen, wohingegen der Boden aus vielzähligen fotografischen Reproduktionen aus ihrem Archiv bestand, über die sich eine transluzide, versiegelnde Schicht zog. Karas Raum der Stille und Spiritualität nimmt Bezug zu ihrer Großmutter Emine, die zum Gegenstand einiger ihrer Arbeiten geworden ist und die in einem Pilgerort in ihrem türkischen Heimatland lebte, in dem Teile ihrer Familie als Heiler*innen und Schaman*innen tätig gewesen sind.

Melike Karas ­Malereien sind inspiriert von ­kurdischen Wand­teppichen, deren ­Muster auf die Zwangsumsiedlung und ­Vertreibung kurdischer Weberinnen verweisen

Melike Karas gestisch-abstrakte Malereien sind inspiriert von kurdischen Wandteppichen, deren Muster etwa auf die Zwangsumsiedlung und Vertreibung kurdischer Weberinnen verweisen. So integrierten die Weberinnen nicht nur Muster ihrer jeweiligen Heimat in ihre Bildteppiche, sondern adap­tierten auch Formen, die sie ihrem neuen Lebensumfeld entnahmen, bildeten eine Melange der visuellen Sprache in ihren geknüpften Narrativen ab. Mit dem Verständnis, dass sich Geschichte, Sein und das Nachdenken darüber in einem ständigen Wandel befinden, greift Melike Kara die Ornamentsprachen der Weberinnen auf und transformiert sie in ihren Malereien und Installationen zu abstrakten Kompositionen. Dabei hält sie persönliches Erinnern und kollektive ­Geschichte als einen Zustand präsent, der durch die Auseinandersetzung mit dem Gegenwärtigen in permanenter Bewegung ist.

Dies wird aktuell in ihrer Präsentation »Vor Ort: Melike Kara« in der Peter und Irene Ludwig Stiftung in Aachen deutlich, die so erfolgreich angenommen wurde, das bereits alle Besichtigungs­termine ausgebucht sind. Für die temporäre Intervention im Haus Ludwig hat Kara 400 silberne Elemente aus Gips handgeformt und an einer großen Fensterfront im Esszimmer des Hauses angebracht. Ihren Bildern ähnlich verwendet Kara hierfür Fragmente von Ornamenten, die sie kurdischen Teppichen entlehnt hat. Diese vielzähligen Kleinstobjekte verweben das Interieur mit dem Außenraum, wo die Künstlerin für Terrasse und Garten weitere Arbeiten in Anlehnung an das vorhandene architektonische Gefüge entwickelt hat: Die großformatigen Bilder »barzani« und »mantik surchi«, die nach kurdischen Volksgruppen benannt sind, fügen sich als Tafeln zwischen den Arkaden auf der Terrasse ein und korrespondieren mit dem umliegenden Garten. Dort hängen in einem Säulengang frei im Wind schwingende Raumteiler aus Textil, die als Membran den Weg und die Sicht in den Garten verdecken, aber durchschimmern lassen. Sie schaffen eine räumliche Situation, die — wie es für so viele Arbeiten Melike Karas charakteristisch ist — dazu einlädt, in dem von ihr geschaffenen Innehalten zu ver­weilen.