Auf das Was kommt es an, nicht auf das Wie: Jannis Carbotta, © Annika Schoenfeldt

Der Klang der Familie

Der Kölner Produzent und Klangkünstler Jannis Carbotta ist einer der Stars der diesjährigen Night of Surprise

Angefangen hat alles im Kindesalter: »Ich bin immer mit meinem Bruder Philipp in den Proberaum meines Opas gegangen und habe dort gespielt.« So beschreibt der Kölner Klangkünstler Jannis Carbotta die Urszene seiner musikalischen Reise. »Mein Opa Herbert, der einmal in der Woche mit seinen Jungs in den Keller ging, um Blues zu spielen, hat mich oft auf seinen Schoß genommen, wenn er an der Orgel oder am Keyboard saß, und mir dabei ein paar Akkorde gezeigt.«

Der Klang von Instrumenten und Musik, insbesondere von Jazz und Blues, war schon früh in seinem Leben präsent. Als sein Onkel, der bekannte Jazzpianist Andreas Schnermann, zum Studium nach Bern aufbricht, hört sich Carbotta in die Plattensammlung rein, nutzt die zurückgelassenen Instrumente und die Plattensammlung und übt: »Das war vielleicht das erste Mal, dass ich eine Gitarre gespielt habe.«

Das Instrument begleitet Carbotta bis heute, wenngleich es gerade in den letzten Jahren Phasen gab, in denen er »die Gitte« zur Seite legte. Dazu später mehr. Vorher soll es darum gehen, wie er an der Musikschule in Wipperfürth — aufgewachsen ist er in der nahe gelegenen oberbergischen Kleinstadt Marienheide — zum ersten Mal richtigen Unterricht bekam: »Mein Lehrer war anfangs sehr kritisch, weil ich mir das Spielen selbst beigebracht hatte und meine Griffe deswegen schlicht falsch waren. Zum Glück wollte er mich nicht korrigieren, sondern ließ mich machen. Bei ihm ging es nur um Harmonielehre und was man spielt, nicht wie!«.

Der junge Carbotta behält die Lust an der Musik, gründet eine Schülerband, die von den Blues-Schweinerockern Wolfmother beeinflusst ist, entwickelt mit seinen Kollegen den Sound weiter, klingt irgendwann mehr wie die gleichzeitig durchstartenden Tame Impala — let’s call it Psych-Rock. Mit der Gruppe Leopard Beard nimmt er an Bandcontests teil, spielt im Luxor und macht bei einem Wettbewerb in Remscheid den ersten Platz. Die Band gewinnt ein paar Aufnahmetage in einem professionellen Studio — und löst sich zeitig nach der Veröffentlichung der dabei entstandenen EP auf. Für Carbotta ein Ruf zu neuen Ufern. Inzwischen hat er auch den Synthesizer für sich entdeckt — und den Entschluss gefasst, an der Robert Schumann Hochschule in Düsseldorf Musik zu studieren.

Am »Institut für Musik und Medien« trifft er auf die Professorin Heike Sperling, den DJ Christian S. und die Komponisten Markus Schmickler und Julian Rohrhuber. Statt Gitarrenrock interessieren ihn vom ersten Tag an die aufregenden neuen Welten namens Elektroakustik, Visual Music oder Computermusik: »Ich fand die Gitarre nicht mehr so spannend, weil sie mich — und da werden mir sicher einige widersprechen — in meinem Klangspektrum eingeschränkt hat. Das, was uns Julian Rohrhuber gezeigt hat, wirkte dagegen unglaublich frei und mit unendlichen Möglichkeiten versehen.« Jannis Carbotta liest sich ein: Pierre Schaeffer und die musique concrète, Pauline Oliveros und Deep-Listening-Praktiken, die Entstehung der Akusmatik und vor allem Musikinformatik. Denn die neuen Welten, in denen die Instrumente nicht mehr Gitarre und Klavier heißen, sondern Supercollider und Max for Live, erfordern Programmierkenntnisse.

In meinen Live-Sets nehme ich Sounds von der Platte und bringe sie in immer wechselnde Kontexte. Eigentlich spiele ich jedes Mal ein neues Set
Jannis Carbotta

Während all das in sein Leben tritt — und in einem Erasmus-Semester in Graz im Studium »Computermusik und Klangkunst« bei den Koryphäen Marko Ciciliani und Daniel Mayer vertieft wird — spielt er parallel in Bands. Er freundet sich mit Frederik Fog Bruun and Jan Philipp von Infant Finches an, springt bei ihnen am Bass und am Synth ein; mit Philipp gründet er das Orgel-Drone-Projekt AEOL. Zwischendurch kursiert noch ein Tape ­seines Duo-Projekts No Visa in der Stadt. Da schreiben wir das Jahr 2017.

Im Mittelpunkt stehen die neuen Freiheiten: »Für meine Bachelorarbeit habe ich eine Klanginstallation gebaut, die ...« — für Laien ist es schwer zu verstehen, was er jetzt erklärt. Man kann es, zugegebenermaßen unpräzise, so erklären: Carbotta hat einen Algorithmus geschrieben, der nach und nach Klänge aus verschiedenen zuvor angelegten Ordnern mit Dateien abspielt; dieses Archiv von Klängen stammt aus eigenen Einspielungen und Field Recordings. Es geht um Variabilität, Kontingenz, um den sinnlichen Eindruck der Installation, die Bekanntes und Unbekanntes zusammenführt.

Noch vor Abschluss seines Studiums begann Carbotta solo aufzutreten, zunächst unter Pseudonym Bat Actor, seit etwa zwei Jahren unter seinem bürgerlichen Namen. Ob dieser Sinneswandel auch etwas mit einer selbstbewussten Rolle als Komponist zu tun hat? »Ja, das kann man so sagen. Ich muss mich mit dem, was ich mache, nicht hinter einem Pseudonym verstecken.«

Bei all diesen Ausflügen bleibt die Familie, die die Keimzelle seiner Musik ist, nicht auf der Reservebank. So produziert er seine erste Solo-EP »A Magic Spin« und veröffentlicht sie auf dem Label Kame House seines Bruders Philipp (besser bekannt als Infuso Giallo). Ob er die EP, die 2023 rauskam, bei der »Night of Surprise« spielen wird? Carbotta lacht: »Das geht eigentlich nicht, weil sie mit einem richtigen Schlagzeug aufgenommen wurde. Aber in meinen Live-Sets nehme ich Sounds von der Platte und bringe sie in immer wechselnde Kontexte. Eigentlich spiele ich jedes Mal ein neues Set.« Nein, er mache es sich nicht leicht, aber die Alternative sei langweilig. Und ist das, also Langeweile, nicht das Schlimmste, was Musik passieren kann?

Night of Surprise
Langweilig wird einem auf der »Night of Surprise«, die auch dieses Jahr im Stadtgarten stattfindet, ganz bestimmt nicht. Das Programm ist wie immer geprägt von den titelgebenden Überraschungen, die auf das Publikum warten. Die bulgarische Violinistin Biliana Voutchkova nimmt sich da zum Beispiel dem Werk des Anfang des Jahres verstorbenen Komponisten Phill Niblock an. Bei der Band Wrens geht es ebenso um die Konservierung eines musikalischen Erbes, jenes der 2022 verstorbenen Trompeterin jaimie branch. Ihre Band spielt, durchaus im Sinne branchs, einen »improvisatorisches Live-Broken Beats-Hiphop-Poetry-Jazz«, wie es der hauptverantwortliche Kurator und Erfinder der »Night of Surprise«, Thomas Glaesser, auf den Punkt bringt. Dazu warten gleich zwei Kölner Kollektive (Glossa und k3:6k), die Londoner Experimental- und Avantpopper*in aya und noch mehr Überraschungen auf die Besucher*innen.
Sa 19.10., Stadtgarten All Area, ab 19 Uhr