Die Kinder aus Korntal
Korntal ist eine blitzblanke, aufgeräumte Kleinstadt in Baden-Württemberg. An der Oberfläche weist nichts darauf hin, dass sich an diesem beschaulichen Ort einer der größten Missbrauchsskandale der Evangelischen Kirche in Deutschland ereignet hat. Erst 2013 kam die über Jahrzehnte an Kindern verübte Gewalt in den Heimen der pietistischen Brüdergemeinde an die Öffentlichkeit, bis heute haben mehr als 150 ehemalige Heimkinder ihre Stimme erhoben und von ihren traumatischen Erfahrungen berichtet. Doch der von der Brüdergemeinde eingeleitete Aufarbeitungsprozess wird von den ’Überlebenden’ (nicht wenige der Betroffenen begingen Suizid) äußerst kritisch betrachtet. Während man in der 9.000-Seelen-Gemeinde die unschöne Sache lieber abschließen und zur Tagesordnung übergehen möchte, kämpfen sie weiter um Anerkennung und Respekt.
Julia Charakters präzise recherchierter Dokumentarfilm »Die Kinder aus Korntal« gibt sechs Betroffenen Raum, ihre Geschichten zu erzählen, einige davon sind nur als Off-Stimme präsent, teilweise sind ihre Berichte mit animierten Sequenzen bebildert. Ihre Erzählungen über Zwangsarbeit, körperliche Züchtigung, psychische und sexualisierte Gewalt sind erschütternd. Sie seien »mit der Bibel großgeprügelt« worden, hätten sich als »Menschenmüll« behandelt gefühlt. Als Heimkinder waren sie Leitern, Erzieher*innen und dem Hausmeister — er ist einer der Haupttäter unter mehr als 80 ermittelten Täter*innen — schutzlos ausgeliefert, oftmals setzte sich die Gewalt in den Patenfamilien fort. Dabei galten die Kinderheime mit Pferdehof, eigener Turn- und Reithalle und nett klingenden Gruppennamen (Schwalben, Buntspechte, Lerchen) als Vorzeigeobjekt.
Zu Wort kommen auch der Pfarrer und geistliche Vorsteher der Brüdergemeinde Korntal, eine in die Aufklärung involvierte Juristin und zwei Gemeindemitglieder. Die von den Opfern geäußerte Kritik an mangelnder Transparenz, Kooperation und Empathie findet sich in ihren Aussagen nur bestätigt. Auch im Aufarbeitungsprozess möchte man kein Stück der eigenen Autorität abgeben. Immer wieder richtet Julia Charakter den Blick auf das saubere Städtchen und die Gebäude der Brüdergemeinde: die Tatorte. Der Neubau wurde übrigens mit der großzügigen Spende eines Täters finanziert.
D 2023, R: Julia Charakter, 95 Min., Start: 26.9.