Den Himmel sehen
Ein neunjähriges Mädchen läuft mitten in der Nacht alleine durch den Wald. Obwohl es sich vor den wilden Tieren und der Dunkelheit fürchtet, fühlt es sich hier dennoch sicherer als zu Hause. Mit dieser Erinnerung beginnt Linda Rennings, auch bekannt als »Kölsche Linda«, ihre Autobiografie »Rebellin der Straße — Weiblich und wohnungslos«, die sie mit Hilfe des Journalisten Albrecht Kieser zu Papier gebracht hat. Das Kind flieht immer dann aus dem Haus der geliebten Großmutter, wenn die gewalttätige Mutter kommt, um es abzuholen. Gewalt wird Linda später auch in zwei Ehen erleben. Ihre spätere Obdachlosigkeit habe eine ganze Menge mit der jahrelangen Missachtung und den häufigen Prügeln zu tun und dem daraus resultierenden Gefühl, vor allem und jedem auf der Flucht sein zu müssen, sagt Linda Rennings bei einem Gespräch am Wiener Platz, ihrem täglichen Einsatzort. »Ich glaube, dass die Seele die Stütze des Lebens ist. Und wenn die Seele so überlastet ist, dass sie nicht mehr alles tragen kann, kann man krank werden«, sagt Rennings, der im letzten Jahr die Alternative Ehrenbürgerschaft verliehen wurde.
Heute hat es sich die 60-Jährige zur Lebensaufgabe gemacht, wohnungslosen Frauen beizustehen und ihnen zu helfen, den schweren Alltag zu bewältigen. Ihr Verein Heimatlos in Köln (H.I.K.) feiert im Oktober zehnjähriges Bestehen. Rennings wird nicht müde, über das Thema »verdeckte Obdachlosigkeit« aufzuklären. Voller Scham und auf ein gepflegtes Äußeres bedacht, sehe man den betroffenen Frauen ihre prekäre Situation oft nicht an. Nicht selten seien sie abhängig von Männern, die sie als »Bettsklavin« oder »günstige Haushälterin« hielten, nur um als Gegenleistung einen Schlafplatz zu bekommen. Auch Hunde, die oft einziger Halt und wichtiger Schutz für obdachlose Menschen sind, liegen ihr am Herzen. Sie selbst kann sich ein Leben ohne ihren Hund Clayd, den sie 2011 aus prekären Verhältnissen in Rumänien rettete, nicht vorstellen.
»Ich weiß besser als viele Bürgerinnen und Bürger, wie sich das Schreckliche auf der Straße anfühlt: offene Beine. Schwarze Stumpen im Mund statt Zähne. Abgefrorene Zehen. Alkohol oder andere Drogen, die die Leute sabbern lassen, irre machen. Gewalt, Gewalt und noch mal Gewalt, untereinander und von außen. Da scheint nichts Helles mehr durch. Krass, diese Widersprüche auf der Straße. Deshalb handle ich.« (aus: »Rebellin der Straße«)
Es grenzt an ein Wunder, dass Linda die schweren Jahre auf der Straße überlebt hat. Nach Scheidung, krankheitsbedingter Arbeitslosigkeit und Zwangsräumung ihrer Wohnung in Elsdorf gerät die 49-Jährige in eine lebensbedrohliche Psychose. »Es werden nicht nur Tage gewesen sein, die ich als Phantom von Elsdorf dahinvegetierte oder nicht leben und nicht sterben konnte. Ich weiß nicht, was ich in diesen Wochen gegessen oder getrunken habe, wo ich meine Notdurft verrichtete, wie oft oder wie selten ich geschlafen, oder was ich geträumt habe und ob ich mich jemals gewaschen habe. Ich verlor mich völlig«, sagt sie, während sie am Wiener Platz ihren Kaffee trinkt. Zuflucht findet sie am Grab ihrer Großmutter am Kölner Stadtrand, wo sie sich notdürftig eine Schlafstätte einrichtet. Hier auf dem Friedhof wird sie — abseits des lauten Großstadttreibens — zumindest geduldet. Neben all den schmerzhaften Erinnerungen erzählt Rennings auch von der Hilfe, die ihr zuteil wurde. Ob es die Arbeit als Verkäuferin des Straßenmagazins Draussenseiter ist, die ihr ab 2012 eine Tagesstruktur und ein kleines Zubrot bietet, und bei dem sie durch eine eigene Kolumne, geschrieben aus der Perspektive ihres Hundes Clayd, erstmals selbst zum Schreiben findet. Oder die Gespräche mit einer Streetworkerin, die nicht locker lässt, und sie eines Tages vom Friedhof mit ins »Café Auszeit« mitnimmt, das der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) betreibt. Schwer krank lässt sie sich schließlich 2007 darauf ein, in einer Einrichtung für wohnungslose Frauen aufgenommen und stabilisiert zu werden. »Ich wurde — jedenfalls erlebte ich das damals so — zwangstherapiert, das hat mir aber wohl das Leben gerettet«, erzählt sie. In ihrem Lebensbericht, der Mitte Oktober bei Rowohlt erscheint, flicht sie immer wieder Geschichten von anderen obdachlosen Frauen und deren Schicksalen ein. Am schlimmsten sei es, wenn sich jemand nicht mehr helfen lasse, sich aufgegeben habe.
Du kannst jemanden von der Straße runterholen, aber du kriegst die Straße nie wieder aus dem Menschen rausLinda Rennings
»Die Gewalt auf der Straße, die Gewalt untereinander, hat zugenommen. Jeder gegen jeden. Je enger die Mauern um sie herum wachsen, desto wütender treten die Eingesperrten aufeinander ein. Das ist mit Händen zu greifen, wenn man in die Notschlafstellen geht.«
Zehn Jahre lang hat die »Kölsche Linda« nun ihr Lebensprojekt H.I.K. vorangetrieben, auf Armutskonferenzen und Fachtagungen gesprochen, am Wiener Platz mit ihrem ehrenamtlichen Team Essen ausgegeben und Sommerfeste und Weihnachtsfeiern für Obdachlose organisiert — unermüdlich und ohne Pause. Obwohl sie sich immer eine Reise ans Meer gewünscht hat, ist sie nie in Urlaub gewesen. Im Dezember 2023 wird sie plötzlich mit einer Lungenerkrankung ins Krankenhaus eingeliefert — ihre COPD, eine Lungenerkrankung als Folge ihrer Zeit auf der Straße, hätte sie beinahe das Leben gekostet. Monate auf der Intensivstation folgen.
»Du kannst jemanden von der Straße runterholen, aber du kriegst die Straße nie wieder aus dem Menschen raus«, sagt sie. Inzwischen ist die 60-Jährige wieder in ihrer kleinen Wohnung in Mülheim und trainiert hart, um bald mit Clayd durch Köln streifen zu können. Mit dem E-Rolli fährt sie dennoch fast täglich zum Wiener Platz, um für die Menschen da zu sein, die ihre Hilfe dringend brauchen.
»Ich muss den Himmel sehen. Das war schon als Kind so, wenn ich auf dem Rasen lag und hinaufschaute. Das war auf dem Friedhof so, als mein anderes Leben anfing. Das ist noch heute so. Ich ersticke ohne diesen Blick hinauf. Wenn ich zu Hause aufwache, reiße ich zuallererst das Fenster auf, ich muss den Himmel sehen. Und sollte es kalt sein, zieh ich mir ein Jäckchen über. Der Himmel ist unendlich. Ich bin frei, wenn ich dort hinaufschaue. Ich bin in der Unendlichkeit, ich bin in keiner Schublade, ich bin nicht in der Armut.«
Linda Rennings, »Rebellin der Straße — Weiblich und wohnungslos«, Rowohlt, 240 Seiten, 14 Euro.