Anderer Blick auf Migration: Özge İnan

Generationen, vereint im Kampf

Özge İnan schildert, wie eine junge Berlinerin in Istanbul den Kampf ihrer Eltern fortführen will

»Was ist dein verdammtes Problem damit, von hier zu sein?«, fragt Emre seine Schwester Nilay am Abend vor ihrem sechzehnten Geburtstag. Gerade hat sie ihn in ihren Plan eingeweiht: Sie möchte nach Istanbul abhauen, um sich den Gezi-Protesten anzuschließen. Es ist 2013, Nachrichten aus dem Taksimviertel laufen im Fernseher, vor dem ihre Eltern sitzen, und Nilay ist dabei, sich eine Schüssel Cornflakes zuzubereiten, als sie ihren Beschluss fasst. »Die Deutschen planen gerade ihren Sommerurlaub, bei uns geht es darum, wie viele heute wieder bei den Protesten verletzt wurden und ob das Militär bald eingreift«, erklärt Nilay ihrem Bruder. Er kann ihr akutes Gefühl von Fremdheit in Berlin, wo sie aufgewachsen sind, nur belächeln.

Von Seite eins an entwickelt Özge İnans Roman »Natürlich kann man hier nicht leben« einen Sog hinein in die szenisch erzählte Welt von Nilay, Emre, Selim und Hülay. Zwei Generationen: die eine aufgewachsen in der Türkei der 80er Jahre, die nächste im Berlin der 90er und 00er. Über drei Erzählstränge entsteht ein anekdotisch erzähltes und glaubwürdiges Bild der Lebensrealität dieser Figuren. Da ist Selim, der in einem türkischen Buchladen jobbt und illegal politische Bücher verkauft, Hülya, deren Schwager von gewaltbereiten Männergruppen, die im Pulk Wolfsgeheul imitieren, bedroht wird — und schließlich deren Kinder Emre und Nilay.

»Alle, die beim Wort ›Migration‹ an Menschen denken, die in Deutschland ankommen, sollten mein Buch lesen. Also alle, die Migra­tion vom Ende her denken«, so İnan. Der Debütroman der Juristin und Journalistin zeigt, dass Migration weder Krieg noch Armut zur Grundlage haben muss.  

Selim und Hülya treffen in den 80ern die schwierige Entscheidung, ihre Heimat Türkei und die vertrauten Strukturen zu verlassen. Für die einundzwanzig­jährige Hülya heißt dies, schwanger in einem Land anzukommen, dessen Sprache sie nicht spricht. In ihrem Heimatland wurden über Nacht Parteien und Vereine verboten und politisches Handeln mit Polizeigewalt bestraft. Das aktivistische Paar kann kein sicheres Aufwachsen für die nächste Generation garantieren. 2013 wollte diese nächste Generation ihr Schicksal dann selbst in die Hand nehmen.