Dringlichkeit besteht immer
Wer über Kassa Overall — Drummer, Rapper, Beatbastler — reden möchte, der muss zuerst vom Möglichkeitsraum »Neuer Jazz« sprechen: Jene Entwicklung des letzten Jahrzehnts (plusminus fünf Jahre), die sich von gewissen Dogmen des akademischen Jazz’ gelöst hat, während sie mit einer ungeahnten Leidenschaft andere Genres und Spielhaltungen umarmt und sich einverleibt hat; wie man es womöglich das letzte Mal rund um das Jahr 1970 gesehen und gehört hat.
In diesem Neuen Jazz, dessen Zentren und, neudeutsch gesprochen, Hubs in Los Angeles, London und Chicago liegen, ergeben sich immer wieder aufgeschlossene und originelle Abzweigungen, wobei nicht immer alles so jungfräulich und innovativ ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Viele der kleineren Acts und großen Stars — zum Beispiel Kamasi Washington — setzen dort an, wo bereits ein John Coltrane und dessen Zeitgenossen die Felder bestellt haben; wofür der Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen den Begriff »Coltraneologen« geprägt hat.
Unruhiger als der eigentlich ziemlich geschmeidige Overall ist keiner
Ein Zweig des Neuen Jazz beschäftigt sich indes vor allen Dingen mit den hektischen Artikulationen, die im Jazz durch seine prismahafte Bandstruktur und dem behänden Beherrschen ungerader Taktarten vergleichsweise grazil und präzise zu gestalten sind. Auf diesem Ast des Jazz-Baums ist der aus Seattle stammende und dort auch wieder lebende Kassa Overall in gewisser Weise König, denn unruhiger als der eigentlich ziemlich geschmeidige Overall ist keiner. (Nichtmals der — da taucht er wieder auf! — Coltrane-Neffe Flying Lotus, der mit seinen Alben und dem Label Brainfeeder großen Anteil am buschigen Wuchs dieses Baumteils besitzt.)
Dabei stößt der 42-Jährige nicht als junger Hüpfer zur aktuellen Hausse auf dem Jazz-Markt hinzu, sondern als längst etablierter Drummer, der Teil der Hausband der US-amerikanischen Late-Night-Sendung von Stephen Colbert war und somit täglich von mehreren Millionen Zuschauer*innen gesehen wurde. Overalls Werdegang ist ohnehin ein recht typischer: In den Anfangsjahren waren der Coltrane-Schlagzeuger Elvin Jones und Billy Higgins (u.a. Sideman bei Ornette Coleman) seine Mentoren, Overall spielte einige Jahre an der Seite der großen Pianistin Geri Allen — das ist schon der Jazz-Olymp. Er spielte alles: Straight Ahead, BeBop, Modern Jazz. Kein Vergleich mit der Musik, die er heute als Solokünstler rausbringt. Diese ist nämlich elektrisch geladen, zuckelig und eindeutig von HipHop und seinen Beatmakern beeinflusst.
Stellt sich die Frage nach der Authentizität: Was ist der wahre Kassa Overall? Die Antwort fällt leicht, denn Overall hat diesen Zwiespalt immer wieder selbst adressiert, vielleicht sogar adressieren müssen. Beides, traditioneller Jazz und HipHop, haben Platz in seinem Herzen. »Für mich ist es möglich, heute im Anzug auf der Bühne zu sitzen und am nächsten Tag zu kiffen und Mac-and-Cheese zu futtern. Ich bin ein Kind beider Geschichten«, erzählte er vor drei Jahren in einem Interview für den Software-Hersteller Ableton.
Dieses musikalische Doppelleben hielt er lange Zeit aufrecht, was sich im Zuge der 2023 erschienen LP »ANIMALS« dann doch änderte. Sein Debüt beim Electronica-IDM-Experimental-Label WARP ging er mit einer neuen Ernsthaftigkeit an, mit der selbstbewussten Behauptung von sich als Produzent und, vor allem, als Rapper. »Ich habe in den letzten Jahren viel an meinem lyricism gearbeitet«, verkündete er im NAST-Podcast und ja, sein Gefühl für Rap-Musik und Spoken Words ist spürbar ausgefeilter als noch auf dem bereits hochgelobten Album »I Think I’m Good« (2020). Bisweilen, mag man einwerfen, wirken manche Kadenzen und Reime gezwungen, sogar überraschend unrhythmisch für einen Drummer.
Overall wird wohl seine Schwachstellen kennen, weswegen er beim besten Track des Albums, »Clock Ticking«, gleich zwei Kollegen für die Kür eingeladen hat: WARP-Kollege Danny Brown und Wiki verpassen dem Track eine Tiefenmassage, die an die besten Stücke Madlibs unter seinem Quasimoto-Moniker erinnern. Bei so viel Rap kann man sich fragen, ob das noch Jazz ist? Ja, es ist der Neue Jazz! Und Kassa Overall einer seiner wichtigsten Stimmen.
Konzert
Di 5.11., Jaki, 20 Uhr