Foto: Fritten Kompetenz Kollektiv, Pexels: Alena Shekhovtcova

Zirkus in der Pommesbude

Überraschend, spektakulär — und gesellschaftskritisch. Das Festival »Zeit für Zirkus« bringt neue Produktionen auf die Bühne

Was haben das Hochlaufen an Wänden, Frittenbuden, die Balance aus Wellness, Work, Live und Power, und das Rieseln von Sand gemeinsam? Sie alle und noch einiges mehr spielen eine zentrale Rolle beim »Zeit für Zirkus«, dem bundesweiten Festival für zeitgenössischen Zirkus. Das Festival, Pendant zur französischen La Nuit du Cirque, zielt darauf ab, dieser Kunst zu mehr Sichtbarkeit in der Kulturszene und darüber hinaus zu verhelfen.

Denn die Szene für zeitgenössischen Zirkus wächst, besonders in Köln. Neben Berlin ist Köln die einzige Stadt, bei der mehr als zwanzig Shows am Festival-Wochenende gezeigt werden — und das in mehr und mehr Locations. »Wir gewinnen in Köln immer mehr Orte dazu, bei denen wir im Rahmen des Festivals Auftritte zeigen«, sagt auch Mechtild Tellmann, Pressesprecherin von »Zeit für Zirkus« in Köln.

In diesem Jahr ist das Urania Theater zum ersten Mal dabei und hostet internationale, zeitgenössische Clown-Stücke. Mit der ortsspezifischen Performance »Lower Level« an der U-Bahn-Haltestelle Heumarkt wächst das Festival in den öffentlichen Raum, und das frisch eröffnete »Kreationszentrum Zeitgenössischer Zirkus« (CCCC) in Kalk ist ein großer Gewinn für die Szene.

Außerdem gibt es neu gegründete Kollektive wie das Fritten Kompetenz Kollektiv, das sich vorgenommen hat, Elemente aus dem Darstellenden Spiel und der Clownerie mit Jonglage, Vertikalseil und Akrobatik zu verbinden. Für ihr Debütstück »Pommes« (ein Work in Progress) dient die Pommesbude als Dreh- und Angelpunkt. Thematisiert werden nicht nur die beliebten frittierten Kartoffelschnitzer, sondern auch ihre ­soziale und kulturelle Geschichte.

Ähnlich gesellschaftskritisch kann es beim Nologo Kollektiv werden. »Mallorca, Macht und Wellness«, die erste Inszenierung in Eigenregie, verspricht ein »ganzheitliches Erlebnis zwischen Entspannung und Macht« zu werden. Das Ensemble, bestehend aus vier Künstlerinnen aus den Bereichen Schauspiel, Theaterpädagogik, zeitgenössischer Zirkus und Physical Theatre, will einen neuen Standard in der »Wellness-Work-Live-Power-Balance unserer Zeit« setzen.

Was auf den ersten Blick nicht unbedingt nach dem Zirkus aussieht, den einige in ihrer Kindheit besucht haben, ist typisch für die zeitgenössische Variante: »Die Kunst des Dazwischen«, wie ihn Theaterwissenschaftlerin Franziska Trapp nannte, ist eine Mischform, die Gewohnheiten bricht. Nicht nur Innovation, auch Tradition, Realität und Fiktion, Kunst und Unterhaltung, Menschliches und Technisches werden miteinander in Dialog gesetzt. Für Mechtild Tellmann haben die klassischen und zeitgenössischen Varianten dieser Kunst gemein, wie spannend, aufregend und interessant sie sind — beide wecken Emotionen und Erinnerungen. »Jede und jeder versteht die Auftritte für sich so, wie er oder sie sie verstehen will — und das ist auch gut so. Dadurch wird die Kunst sehr zugänglich«, so Tellmann.

Zum einen ist Zirkus überraschend und spektakulär. Gleichzeitig können Inhalte mit thematischer Tiefe transportiert werden. So bei der Jonglageshow von ­Tobias Dohm, der in seinem Stück »Raum.Zeit« über Eile und Bewegung reflektiert, während weiße Kugeln wie Planetensysteme im Raum schweben. Musikalisch ­begleitet lotet er Gewicht und Schwerkraft aus und vermittelt seinen Eindruck von Raum und fortschreitender Zeit.

Im Gegensatz zum klassischen Zirkus legt der zeitgenössische mehr Wert auf narrative Strukturen und experimentelle Formen. Auch die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen und interdisziplinäre Zusammenarbeit sind zentrale Merkmale — wobei ganz klassisch hohe körperliche Präzision und Risikobereitschaft eine Rolle spielen. Dabei wird oft ein immersives wie provokatives Erlebnis geschaffen, das sowohl unterhalten als auch zum Nachdenken anregen soll. Diese Freiheiten machen den zeitgenössischen Zirkus für Tellmann zu einem »Spielfeld, das sehr viel möglich macht, weil es keine ganz klare Definition hat«.
»Für mich ist und war Zirkus immer verbunden mit diesem ­Gefühl der Magie«, erzählt sie.

Die Magie, in eine andere Welt entführt zu werden und ein Stück weit vom Alltag wegzurücken. »Erst letztens habe ich eine Produktion gesehen, bei der ich dachte: Wow, das hat nichts mehr mit dem zu tun, was ich aus der Kindheit kenne, aber dieses magische Gefühl war die ganze Zeit da.«

Was auf den ersten Blick nicht unbedingt nach dem Zirkus aussieht, den einige in ihrer Kindheit besucht haben, ist typisch für die zeitgenössische Variante

Bei »Zeit für Zirkus« werden die Produktionen nicht im klassischen Sinn kuratiert. Die Zirkus-Szene wird angefragt, Vorschläge zu machen und bekommt die Möglichkeit, das zu präsentieren, woran sie gerade arbeiten. Einzige Voraussetzung ist die Professionalität. »Es ist besonders, so viele unterschiedliche tolle Künstler*innen aus dem Bereich hier in Köln gebündelt zu sehen«, findet Mechtild Tellmann. Viele Künstler*innen seien in den letzten Jahren unterwegs gewesen, um sich ausbilden zu lassen und sind jetzt zurück in der Stadt.

»Ich habe schon versucht, mir eine Route zusammenzustellen, damit ich alles sehen kann. Das schafft man gar nicht — aber man will ja auch nichts verpassen«, erklärt sie. Bei dem vielfältigen Programm überrascht das nicht. Für Zirkusbegeisterte ist sicher jeder Programmpunkt ein Gewinn. Da gibt es Shows für Kinder, Erwachsene, Menschen, die Jonglage und Akrobatik lieben, oder aber den mehr oder weniger klassischen Clown. Im Stück der Areal Angels »ich geh dann mal die wand hoch« werden persönliche und globale Krisen durch die schwindelerregende Flugdarbietung auf den Kopf gestellt. Im Varieté »What?! Zirkus.Gegen.Stand.« kommt alles zusammen: skurrile, poetische und clowneske Figuren zeigen Jonglage und Akrobatik, moderiert von commandoTaube. Ein Kinderstück, das auch die Familie zum Schmunzeln bringen soll, ist Vladimir Blancos erste deutsche Produktion »Zeros Plan — Auf der Suche nach Ordnung im Chaos«. Blancos erzählt durch Zirkus, Theater und Musik seine Version der Entstehung des Universums.

Alle, denen vor lauter bunten Angeboten der Kopf kreist, können sich auf jeden Fall die Eröffnung in den Kalender eintragen: Der Eintritt ist frei und es werden kleine Ausschnitte aus allen Produktionen gezeigt. Man bekommt einen guten Überblick der Aufführungen während des Festivals und ein stimmiges Gefühl für das, was die Kölner Szene in Sachen zeitgenössischer Zirkus zu bieten hat.

15.–17.11.
Diverse Orte in Köln
zeitfuerzirkus.de