Blick für das Interessante: Thomas Meinecke, Foto: Michaela Melián

Spazieren mit Adorno

Thomas Meineckes »Odenwald« findet in der Provinz die Musikphilosophie

Die Romane von Thomas Meinecke gehören eigentlich dem ­ältesten Genre des Romans an: Sie sind Briefromane, in denen der rudimentäre Plot von Figuren vorangetrieben wird, die schriftlich miteinander kommunizieren. Selbstverständlich geschieht das heute nicht mehr per Briefpost, sondern per E-Mail und Messengerdienst. In den ausgetauschten Nachrichten geht es dann auch weniger um langwierige Erkundungen eines fiktionalisierten Gefühlslebens, anhand dessen die Leser:innen schließlich ihr eigenes Herz (und ihre ­eigene Moral) erziehen sollen, sondern um Schnipsel aus anderen Texten, die die Figuren einander zusenden, so wie das neugierige Großstadtbewohner:innen halt so machen. Mal geht’s um Gendertheorie, mal um Critical Race Studies, und die Lokalzeitungslektüre der umherreisenden Figuren wirft auch Textmaterial ab. Irgendwann haben Meineckes Figuren dann auch mal Sex oder knutschen zumindest ein bisschen — wir leben schließlich nicht mehr im 18. Jahrhundert.

Auch »Odenwald« ist ein ­typischer Thomas-Meinecke-­Roman: Die Gegend im Dreibundesländereck dient dabei vor ­allem als Anlass für Erkundungen in ­diversen Textgebirgen, in die Meinecke seine Figuren wie ­Location Scouts aussendet, damit sie ihm — der als Autorfigur im Text auftaucht — Hinweise ­liefern: »Vielleicht interessiert dich das ja«, aber verstanden als kategorischer Imperativ.

Und interessant ist es schon, was Meinecke in diesem Textkonvolut zusammenträgt. Im Mittelpunkt steht dabei Amorbach, der bevorzugte Ferienort der Familie des Philosophen Theodor W. Adorno. Von hier knüpft Meinecke ein Textgewebe, dass die reaktionären Nachkommen des örtlichen Adelsgeschlechts ebenso umfasst wie die Auswanderungsgeschichte aus der Region in die USA (eine weitere Meinecke-Trope).

Den Knotenpunkt im Gewebe bilden aber Theodor W. Adorno und seine Musikphilosophie, der sich Meineckes Figuren in kritischer Sympathie annähern. Adornos harsche Kritik des Jazz wird historisiert: schließlich konnte Adorno Be-Bop ja gar nicht kennen. Seine eigenen, wenig bekannten Kompositionen und sein noch weniger bekanntes Singspiel erhalten eine Würdigung. Schön daran ist, diesen Strängen nachzugehen und sich zu wundern, welche Abzweigung hier wieder genommen wurde. Klar ist aber auch, unter »Lesevergnügen« verbucht man landläufig etwas anderes. Neugierige Großstadtbewohner:innen wie der Autor dieser Zeilen werden aber ihren Spaß mit »Odenwald« haben.

Lesung

Fr. 15.11., King Georg, 21 Uhr

Roman

Thomas Meinecke: »Odenwald«
Suhrkamp, 440 Seiten, 28 Euro