Noch nicht die ganze Geschichte
Es ist der 1. Oktober, 15 Uhr, und wir stehen mit Thorben Müller an der Severinstorburg. Müller ist Guide für das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln (NS-Dok), der angehende Historiker macht den Job seit vier Jahren — seitdem führt er Gruppen durch das Kölner Stadtgebiet, um ihnen Orte von Widerstand und Terror, Abtauchen und Deportation zu zeigen. Häufig geht es um die Edelweißpiraten.
Langsam trudelt die angemeldete Gruppe ein, es sind Polizisten aus Porz, ihr Dienstgruppenleiter hat die Führung ausgesucht. Das ist Teil eines Programms zur Förderung der Demokratie. Schon bald, nur wenige hundert Meter weiter, sind die Kollegen mit ihrer Geschichte konfrontiert. In der Schlacht an der Elsaßstraße am 3. März 1933, als sich zum letzten Mal in Köln kommunistische Arbeiter und Arbeitslose offen der SA stellten, konnten sich die Nazis schließlich nur deshalb durchsetzen, weil sie die Polizei zur Hilfe riefen. Und sie kam der SA gerne zur Hilfe, setzte sogar Maschinengewehr und Panzerwagen ein. Rechtlich gesehen hätte sie sich nicht mit der SA gemein machen dürfen, noch war die Gleichschaltung nicht durchgeführt.
Die Kollegen lassen die Schilderung stoisch über sich ergehen, angefasst sind sie erst am Ende der Führung — da sind wir schon im El-De-Haus, der früheren Kölner Gestapo-Zentrale. Thorben Müller führt durch die Zellen im Keller, eng und stickig. Im letzten Kriegsjahr pferchte die Gestapo zwanzig Leute und mehr in diese Löcher — Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, politische Häftlinge. Ab November 1944 begann eine grauenhafte Hinrichtungsroutine, zwei Gefangene pro Tag, um die Zellen leer zu bekommen. »Das hat keiner befohlen«, sagt Thorben Müller, »die Gestapo-Leute haben über die Hinrichtungen selber entschieden, den Galgen haben sie improvisiert.« Erschütterung macht sich in der Besuchergruppe breit.
Zwischen Elsaßstraße und El-De-Haus sind wir im Volksgarten. In dessen Rosengarten war bis Dezember 1942 einer der Haupttreffpunkte der Edelweißpiraten. Bis zu 200 Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahre haben sich Abend für Abend versammelt, darunter viele Mädchen. Sie waren auf sich gestellt: die Väter im Krieg oder gefallen, ausgebombt und obdachlos, sie stammten überwiegend aus Arbeiterfamilien. Sie waren auf sich gestellt — und wollten das auch bleiben. Mit HJ-Mitgliedern lieferten sie sich regelmäßig Scharmützel. Auch wenn »Politik« in einem klassischen Sinn nicht im Vordergrund stand, ging es ihnen darum, sich Freiräume zu erkämpfen, ohne Nazi-Propaganda und ohne Drill. Anstatt auf Hilfeleistungen der von den Nazis organisierten Sozialwerke zu warten, entschieden sich viele von ihnen für Einbrüche und Diebstähle.
Das hat dazu geführt, dass über Jahrzehnte die Edelweißpiraten weder juristisch noch in der breiten Öffentlichkeit als widerständig und antifaschistisch galten — sondern vor allem als verwahrloste, kriminelle Jugendliche. Erst ab den 80er Jahren setzten Antifa-Initiativen und linke Historiker wie Detlev Peukert oder Matthias von Hellfeld eine andere Perspektive auf die Edelweißpiraten durch. »Jugendrebellion gegen das 3. Reich« lautete das Schlagwort, es passte gut in eine Zeit, in der Punks und Hausbesetzer eine häufig noch konservative Stadtgesellschaft herausforderten. Die Gegenreaktion ließ nicht lange auf sich warten, es meldeten sich Stimmen, die darauf bestanden: Aber es waren doch Kriminelle! Auch die SPD stellte sich nie vorbehaltlos hinter die Edelweißpiraten, »richtiger« Widerstand sehe anders aus. Erst 2005 würdigte der damalige Kölner Regierungspräsident Jürgen Roters (SPD) die Edelweißpiraten öffentlich als Widerstandsgruppe.
Dabei hatte Peukert zwanzig Jahre zuvor das Argument gebracht: In einer totalitären Gesellschaft ist jede Form der Abweichung, die sich gegen die totalitären Maßnahmen und Regulierungen wendet, Widerstand. Nicht umsonst wurden die Edelweißpiraten von Nazi-Spitzeln unterwandert, verfolgt und schließlich in den Knast oder in Jugend-KZs gesperrt.
Heute könnte man sagen: eingetütet, gut gemacht, wenigstens ein gesellschaftliches Feld, das abgesichert ist gegen Rechtsruck und politische Instrumentalisierung. Thorben Müller meint, bislang habe er in keiner Führung dieses Ressentiment, »Es waren doch Kriminelle!«, gehört. Dirk Lukaßen, der den Museumsdienst des NS-Dok leitet, kann das bestätigen. Anders als in Sachsen oder Thüringen haben noch keine AfD-Leute versucht, Führungen zu sabotieren. Er betreut über 30 Guides — so viele hat kein anderes Kölner Museum —, und koordiniert die Touren, für Jugendliche wie Erwachsene, für pubertierende Schüler wie für abkommandierte Polizisten.
Über Jahrzehnte galten die Edelweißpiraten weder juristisch noch in der breiten Öffentlichkeit als widerständig und antifaschistisch
Also eine Erfolgsgeschichte? Ja, sagt Lukaßen, aber es ist nicht die ganze Geschichte. Am 10. November wurden »die Edelweißpiraten« am Bahnhof Ehrenfeld von der Gestapo erhängt, so heißt es häufig. Das Datum hat sich in die Stadtgesellschaft eingebrannt. Der Bahnhof ist ein Gedenkort, ein großes Mural erinnert an die Nazi-Morde. Lukaßen sagt, in Publikationen entdecke er bis heute Fotos vom 10. November, deren Bildunterschrift auf die Edelweißpiraten verwiesen. Dabei sehe man doch direkt, dass auf den Fotos nicht nur Jugendliche zu sehen seien! Die Mordaktion richtete sich nicht gegen die weitgehend zerschlagenen Edelweißpiraten, sondern gegen die »Ehrenfelder Gruppe« um den entflohenen KZ-Häftling Heinz Steinbrück, der Deserteure, Zwangsarbeiter, untergetauchte Juden um sich versammelte — und eben auch versprengte Edelweißpiraten. Es war zunächst eine Überlebensgemeinschaft, die sich nach und nach in einen regelrechten Partisanenkampf mit der Gestapo hineinsteigerte.
Niemand sei gehängt worden, weil er Edelweißpirat war, sagt Lukaßen. Erst als sich die Jugendlichen mit Zwangsarbeitern und Deserteuren zusammengetan hatten, als sie Kontakt zu kommunistischen Zellen aufnahmen und schließlich SA- und Gestapo-Schergen erschossen, traf auch sie der Terror des Nazi-Apparates.
Das schmälert nicht den früheren Widerstand der Edelweißpiraten — aber es wirft den Blick auf die, von denen immer noch zu wenig erzählt wird. Nach den Bombardements entvölkerte sich Köln rasant, 1944 standen weniger als 200.000 Kölnern 100.000 Zwangsarbeiter gegenüber. Ihnen drohte bei Abweichung kein Jugendknast, sondern die Todesstrafe. Von ihrem Widerstand, ihrem Hass auf die Nazis, den Ausbruchsversuchen und Überlebenskampf wissen wir immer noch zu wenig. Ihre Geschichte zu erzählen, könnte in einem Land mit stärker werdender AfD und rassistischer Migrationspolitik noch schwieriger werden.