Einstimmung aufs Feuer
Es prasselt so viel auf einen ein in diesen Tagen, aber wenn man sich ernsthaft um Orientierung bemüht, kommt man um die Bücher von James Baldwin (1924–1987) nicht herum. Als Afroamerican ging er schon früh ins selbstgewählte französische Exil und zerlegte den Rassismus und das dominante sexuelle und ökonomische Ausbeutungssystem seiner alten Heimat in Romanen, Gedichten, Theaterstücken und Essays — so scharf, bitter, engagiert und poetisch pointiert, dass es damals unerhört war und uns heute noch packt. Baldwin schrieb auch über Musik — aber vor allem schrieb er musikalisch.
Dass ihm die New Yorker Bassistin, Komponistin, Produzentin Meshell Ndegeocello exakt zu seinem 100. Geburtstag am 2. August ein Album gewidmet hat, passt zur Aufmerksamkeit, die Baldwin und sein Werk wieder auf sich ziehen (seine Bücher erscheinen derzeit alle in neuer Übersetzung). Ihr Album »No More Water« ist aber weit mehr als eine Hommage oder eine Adaption seiner Texte, sondern ein Meisterwerk in sich, eine Meditation über schwarze Musik in Amerika und umgekehrt: über Druck und Einfluss, den die USA mit ihrem fortwährenden Rassismus auf die Musik der Schwarzen ausüben.
Ndegeocello entfaltet ein großes Panorama schwarzer Musik, in das sie die Texte Baldwins platziert, aber auch aktuelle Poeme. Stilistisch ist das Album nicht auf einen Nenner zu bringen — Funk, Soul, Chanson, Folk, Nu Jazz. Man könnte es sogar als die Dekonstruktion eines Musicals bezeichnen, hätte Ndegeocello die »Bestimmung« dieser Musik nicht selber benannt: »The Gospel of James Baldwin«. Genau das ist es. Mit Gospel im engeren Sinne haben ihre Stücke kaum etwas zu tun, aber viel mit seiner Idee — Gemeinschaftlichkeit, Zusammenhalt, Raum schaffen, für Geschichten und auch für Ekstase.
Der Albumtitel ist programmatisch: »No More Water« zitiert indirekt den vielleicht berühmtesten Baldwin-Essay: »The Fire Next Time«. Jetzt, schrieb er vor über sechzig Jahren, sei die Chance für Versöhnung und Umkehr, den friedlichen Bruch mit dem rassistischen Konsens der USA, diesen »100 Jahren Freiheit ohne Gleichberechtigung«. Und falls diese Chance verpasst würde? »The Fire Next Time«! Ndegeocello »übersetzt« Baldwins zornige Prophezeiung in »No More Water«.
Ndegeocello hat eines der wichtigsten Alben des Jahres vorgelegt — im Stadtgarten wird sie es an zwei Abenden vorstellen.
Tonträger: Meshell Ndegeocello: »No More Water — The Gospel of James Baldwin« (Blue Note/Universal)