»Die Gespenster, Herr Kesselbach, sind wir«
Über Donald Trump sagte der US-amerikanische Schriftsteller Richard Ford vor einigen Jahren in einem Interview mit der ZEIT, literarisch reize ihn der damals noch amtierende US-Präsident nicht, denn er stehe für das absolut Böse. Nora Bossong interessiert sich, zumal als deutsche Schriftstellerin, für das absolut Böse. Mit ihrem neuen Buch »Reichskanzlerplatz« wagt sie nicht weniger als einen historischen Roman über Menschen an den innersten Rädchen der nationalsozialistischen Terrormaschinerie, der sich über eine erzählte Zeit von satten 25 Jahren erstreckt, auf nicht einmal 300 Seiten.
In seiner Zeit als Jurastudent beginnt der schwule Ich-Erzähler Hans Kesselbach im September 1928 eine Affäre mit Magda Quandt, der Stiefmutter seines mittlerweile verstorbenen Schulfreundes Hellmut. Wenige Jahre später heiratet sie Joseph Goebbels und wird zur nationalsozialistischen Vorzeigemutter. Kurz vor der Reichspogromnacht begegnen sich Hans und Magda in der Villa der Goebbels’ auf Schwanenwerder noch einmal. »Ist es nicht seltsam, fragte sie, dass wir jetzt wieder zusammensitzen? Wenn man bedenkt, dass ich dich einmal in Hellmuts Bett gefunden habe. Und es ist ja bekannt, welchen Umgang du seither mit gewissen Männern pflegst.«
Die verengte Fokalisierung eines Ich-Erzählers, dessen Wahrnehmungen immer in ihrer perspektivischen Begrenzung markiert sind, der dazu noch in seiner Arbeit für das Auswärtige Amt mit dem Regime einerseits kooperiert, andererseits immer gespenstischer den Atem der Jagd auf Homosexuelle wie ihn im Nacken spürt, und die Grundlage einer historisch belegten Liebschaft mit Magda Goebbels: Die erzählerische Anlage von »Reichskanzlerplatz« ist vielversprechend.
Nach dem Ende seiner Affäre mit Magda streift Hans durch die kümmerlichen Überreste der queeren Szene Berlins, bevor er in den konsularischen Dienst nach Mailand wechselt. Einmal stellt in seiner Gegenwart der Chef der eidgenössischen Fremdenpolizei, Rothmund, bei deutsch-schweizerischen Visaverhandlungen die Haftbedingungen in den Konzentrationslagern in Frage, und der dafür zuständige SS-Brigadeführer Kleinert lenkt ein. »Aber den Entzug der Nahrung als Strafe haben wir aufgegeben, und die Prügelstrafe wird in Gegenwart eines Arztes vollzogen. (…) Kleinert sah Rothmund nachdenklich an, im Nebenraum sang von der Schallplatte ein Tenor Am Brunnen vor dem Tore.«
Farbig und plastisch erzählt Nora Bossong die Banalität des Bösen. Ort des Geschehens ist ein Konsulatsschreibtisch, wo die Barbarei weniger spektakulär daherkommt und einen schmalen Rest Ambivalenz hergibt, wenngleich sie jeden erdenklichen Opportunismus fordert. Längst ist Hans Mitglied im Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen und abonniert den »Völkischen Beobachter«, angeblich um möglichst unauffällig mitzuschwimmen.
In der Schweiz trifft er noch nach Kriegsbeginn den untergetauchten Freund Karl, Regimegegner und einst Mitschüler von Hans und Hellmut, der den Protagonisten konfrontiert. »Kannst du wirklich noch für dieses Regime arbeiten?« Hans antwortet: »Es sind doch nur konsularische Fragen.«
An anderen Stellen erweist sich der Stoff als kaum zu bändigen. Das erste Attribut, das der Roman Joseph Goebbels bei dessen Auftreten zuschreibt, ist sein Hinken, und auch Zitate aus der Sportpalastrede lässt das Buch nicht aus. Einer derart flachen historischen Figur wie Joseph Goebbels literarische Uneindeutigkeiten abzugewinnen, dürfte so handwerklich schwierig wie moralisch heikel sein, aber über das Erwartbare gelangt sie bei Nora Bossong kaum hinaus. Auch bei Madga fragt man sich: Kann man eine glühende Nationalsozialistin am literarischen Kriterium messen, dass ihre in den Szenen der Affäre mit Hans eingestreute Vergangenheit streckenweise wirkt wie ein deterministischer Erklärungsversuch der Faschistin, die sie im Roman und historisch geworden ist? Und aus manchen Spaziergängen liest man die Offensichtlichkeit heraus, mit der sie Hans und Magda ins Regierungsviertel führen, damit das Buch historische Ereignisse wie den Reichstagsbrand platzieren kann.
»Reichskanzlerplatz« stellt die Fakten deutscher Nazigeschichte in ein diffiziles Verhältnis zur Fiktion eines politischen Schreibtisch-Mitläufers, die gegenwärtiger nicht sein könnte.
Nora Bossong: »Reichskanzlerplatz«, Suhrkamp, 296 Seiten, 25 Euro