Welt ohne Schatten

Materialien zur Meinungsbildung

Ich schreibe jetzt einen Satz auf, der für manche Menschen einer Verleumdung gleichkommt. Hier kommt der Satz: Oma Porz mag Naive Malerei. Und vorzugsweise jene Werke, denen selbst aufgeschlossene Kunstkritiker ihre Anerkennung verweigern. Oma Porz bekümmert das nicht. Warum auch? Sie findet Wohlgefallen an den Bildern, auf denen nichts einen Schatten wirft, obwohl immer die Sonne scheint. »Das muss ja mir gefallen und nicht anderen«, sagt Oma Porz.

Als ich auf die Bilder schaute, gerahmte Postkarten, die seit ­ewigen Zeiten in ihrem Flur hängen, kam mir in den Sinn, dass ­Geschmack etwas ist, das uns ­widerfährt, wie eine glückliche Fügung oder aber ein schwerer Schicksalsschlag.

Unser Geschmack — ein Verhängnis: Es gruselt einen bei diesem Gedanken, nicht wahr? Es ist, als schösse Amor seinen Pfeil auf Atze oder Pit, die mit ihren Hunden immer vor Trinkhalle Hirmsel herumsitzen, wenn die Vorstandsvorsitzende eines äußerst dubiosen Rüstungskonzerns in Folge einer schier unglaublichen Verkettung haarsträubender Zufälle ausgerechnet bei Trinkhalle Hirmsel Rast machte, um sich von all den Strapazen dieses total verrückten Tages mit ein paar ­Flaschenbier und einem Brühwürstchen aus der Mikrowelle zu stärken. Ja, was machen denn dann der Atze oder der Pit? Das passt ja alles nicht. Was sagen denn die anderen da? Und dürften die Hunde mit in die Villa am Stadtrand?

Aber nicht nur Amor kann uns mit unverantwortlichem Schusswaffengebrauch vor Probleme stellen. Was tun wir, wenn wir feststellen, dass unser Geschmack nicht jenem entspricht, der gemeinhin als guter Geschmack gilt und weithin akzeptiert ist? Nicht auszudenken, man stellte fest, dass einem — völlig unerklärlich — das »Frühlingsfest der Volksmusik« gefiele! Ja, was dann? Ein Leben voller Lüge und Verstellung wäre die Folge. Andernfalls wechselten Menschen, die sich bislang  Freunde nannten, die Straßenseite, wenn sie uns begegneten, oder sie behaupteten, uns nie gekannt zu haben — von wegen Kontaktschuld.

Nun, man kann warten. Manches, was in früheren Zeiten Kopfschütteln hervorgerufen hat, gilt heute als stilsicher. So wird aus dem Modemuffel von einst eine tragische Stilikone vor der Zeit, und Stars und Sternchen ­flanieren in kurzen Hosen und mit kniehohen Tennissocken in bequemen Sandalen über den ­roten Teppich.

Aber man muss ja jetzt, in der Gegenwart, damit zurechtkommen, als Banause zu gelten, dessen Geschmacksverirrung die ­Mitmenschen geradezu belästigt. Die oft behauptete Akzeptanz individueller Vorlieben und das Lob aller Diversität finden schnell ihre Grenzen, und meist dort, wo man es nicht erwartet: bei Schlagermusik, Naiver Malerei oder meinem Anorak.

Noch immer stand ich in Omas Porzens Flur und starrte auf die Bilder. Ich Banause hatte sie nie beachtet, sie waren einfach da, so wie das Brokatdeckchen unter dem Telefon. »Schön, ne?«, sagte Oma Porz und gab mir einen Bildband mit — es war keiner, den man wie zufällig auf dem Sofa liegenlässt, um Eindruck zu schinden, wenn Besuch kommt. Aber als ich daheim darin blätterte, spürte ich einen seltsamen Sog und ich ­zauderte, ob ich mich ihm hingeben oder gegen ihn ankämpfen sollte. Was fürchtete ich? Dass mir diese Bilder gefallen würden? Dass etwas an ihnen mich ergreifen könnte? Dass ich mich auf unaussprechliche Weise verstanden fühlen würde, dass diese Bildchen mein Herz wärmen, mich zu Tränen rühren, dass sie mich etwas bislang kaum zu Ahnendes lehren könnten? O Gott! Hastig schlug ich das Buch zu — ich kann mich an keine Kunst erinnern, die mich in letzter Zeit dermaßen ergriffen und erschüttert hat. Und das zu schreiben, kommt einer Selbstverleumdung gleich.