Hinterhof-Jargon im Mainstream
Wer etwas über die Gegenwart wissen will, liest HipHop-Lyrics. Das hat die Jury des Pulitzer-Preises schon vor ein paar Jahren verstanden und den US-Rapper Kendrick Lamar dafür ausgezeichnet, dass seine Texte »die Komplexität des modernen afro-amerikanischen Lebens einfangen.« Klar, auch in Deutschland werden in Rap-Lyrics Fragen von Identität und der Ein- und Ausschlüsse einer Einwanderungs- und Klassengesellschaft verhandelt. Nur auf eine ähnliche Auszeichnung müssen deutsche Rapper:innen bislang warten. Aber wenigstens haben sie nun ein Buch: »Remix Almanya«. Geschrieben haben es Murat Güngör aus Frankfurt und Hannes Loh aus Köln, die schon mit ihrem Buch »Fear of a Kanak Planet« die migrantischen Roots von HipHop in den Vordergrund gerückt haben — zu einer Zeit, als Rap in Deutschland hauptsächlich die Ausdrucksform weißer Mittelschicht-Kids darstellte. Das war 2002, und Friedrich Merz’ Forderung nach einer »Leitkultur« war jüngste Geschichte, die Hartz-Reformen noch ein Ideenpapier, und Thilo Sarrazin hatte noch keinen Bestseller geschrieben. Ein knappes Vierteljahrhundert haben Rapper:innen die Identität dieses Landes soweit geremixt, dass sich in ihren Text- und Bildwelten ein neuer Raum eröffnet hat, in dem Platz für all die Diskontinuitäten und Provisorien ist, die zur Identitätsbildung dazugehören. Loh und Güngör nennen ihn »Almanya«.
Am deutlichsten zeigt sich dieser Raum in der Sprache: »Der Rakle mit der Duba, der Typ da mit dem Stoff / Nummer 7, 8, 9, Ganja, Trava, Ott / Und die Zehn folgt, hier und heute, nur für euch./ Çarşaf versene — ›Gib mal Paper‹ auf Kanakendeutsch«, rappen die beiden Frankfurter Celo & Abdi auf »Hinterhofjargon«. Sie sind Kinder bosnischer und marokkanischer Einwander:innen, und in ihren Texten nehmen sie die Sprache ihrer Umgebung auf: ein urbanes Kiezdeutsch aus Bosnisch, Arabisch, Deutsch, Romanes, Kurdisch oder Türkisch.
Es ist das Deutsch, in dem sich eine postmigrantische Diversität als Selbstverständlichkeit ausdrückt, ein »Archiv zeitloser Emotionen, ein Erfahrungsraum, der für alle Menschen wichtig ist«, wie es die Soziologin Naika Fourotan in »Remix Almanya« ausdrückt. Sie beschreibt Rap als empowernde Erfahrung, in der das Code-switching zwischen verschiedenen Sprachen und Soziolekten für Kinder und Jugendliche aus Familien mit Migrationsgeschichte eine Erfolgsgeschichte ist: »Du kommst ›neu‹ in dieses Land und innerhalb weniger Jahre etablierst du deinen Slang im Mainstream.«
Eigentlich hätte genau das schon viel früher die Norm sein sollen — das wird bei der Lektüre von »Remix Almanya« schnell deutlich. Das große Verdienst des Buches ist es, dass über postmigrantischen HipHop aus der Perspektive derjenigen geschrieben wird, für die er eine besonders große Bedeutung hat. Er wolle so schreiben »wie Rap-Künstler, die in den Hinterhöfen ihre Lyrik verfassen«, gesteht etwa Buchpreisgewinner Dinçer Güçyeter im Interview und fordert mehr Aufmerksamkeit für Rap bei den Jurys von Literaturpreisen.
Wer die Gegenwart verstehen will, liest Rap-Lyrics
Der in Bonn aufgewachsene Xatar erzählt, wie wenig identitätsstiftend der Deutsch-Rap der 90er Jahre für ihn und andere Migra-Kids damals gewesen ist, und wie er und andere Rapper in den Nullerjahren den Stil erst für sich reklamiert und ihm dann neues Leben eingehaucht haben. Und Rapper Apsilon berichtet, wie er mit den Männlichkeitsbildern fremdelt, die er im Straßen- und Gangster-Rap gelernt hat. Und als Vorreiter des postmigrantischen HipHops machen Güngör und Loh den Kölner Musiker Metin Türkoz aus, der in den 70er Jahren seine Erfahrungen mit seinem Ford-Vorarbeiter in seinem Hit »Guten Morgen Mayıstero« verarbeitet hat.
»Remix Almanya« beschreibt all dies, aber verklärt es nicht. Schließlich ist post-migrantischer HipHop nicht frei von Sexismus, Homophobie oder Influencer-Manipulation. Und der Schwarze Rapper Megaloh spricht im Interview Rassismus bei arabischen Männern an. Es ist gut, dass »Remix Almanya« diese Konflikte nicht verschweigt.
Bei 400 Seiten bleibt dennoch eine gewisse Redundanz nicht aus — Forderungen und Erfahrungen ähneln sich halt oft, und auch der politische Hintergrund ist an vielen Stellen so sehr Allgemeingut, dass man ihn nicht noch ausführlich hätte erläutern müssen. Aber das hat »Remix Almanya« mit einem guten HipHop-Album gemein. Schließlich kann nicht jede Textzeile eine gute Punchline sein.
Hannes Loh & Murat Güngör:
»Remix Almanya. Eine postmigrantische HipHop-Geschichte«
Hannibal, 400 Seiten, 27 Euro
Lesung
Fr 13.12., King Georg, 21 Uhr