»Ohne ein Brot im Bauch bringt der beste Unterricht nix«: Martin Süsterhenn (l.), Leiter der Katharina-Henoth-Gesamtschule, schmiert Stullen

Neckermann-Katalog für bessere Noten

Das Startchancen-Programm soll für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen und Schulen in benachteiligten Stadtteilen unterstützen. In der ersten Förderrunde nehmen auch 31 Schulen aus Köln teil. Die hochdotierte Bildungsoffensive weckt große Hoffnungen — aber auch schon erste Kritik

Gerade ist Martin Süsterhenn beim Käse angekommen, Fleischwurst und Halal ist schon eingetütet. Seit 6 Uhr 30 schmiert der Schulleiter der Katharina-Henoth-Gesamtschule gemeinsam mit Küchenchefin Ute Poganietz Vollkornstullen. Wenn ein freiwilliger Helfer ausfällt, springt der Schulleiter ein. Zwei Mädchen stürmen an diesem Montag Anfang November in das Schulcafé, lächeln freundlich und schnappen sich die beiden letzten der 120 kostenlosen Stullen. Süsterhenn kennt alle 1343 Schülerinnen und Schüler — und ihre Probleme: »Ohne ein Brot im Bauch bringt der beste Mathe- und Deutschunterricht nix«, sagt er. Der 63-Jährige akquiriert viele Spenden für die kostenlosen Essensangebote. Dennoch fordert er eine öffentliche Finanzierung: »In allen Schulen wie unseren braucht es ein kostenloses Frühstück und Mittagessen.«

Die Katharina-Henoth-Gesamtschule liegt mit ihren zwei Standorten genau zwischen Höhenberg und Vingst und ist dem »Sozialindex 9« zugeordnet. Der Standorttyp bemisst, wie belastet die Schülerinnen und Schüler durch Armut sind. »Gäbe es Stufe 10, wären wir in 10«, ist sich Süsterhenn sicher. Knapp 90 Prozent der Kinder haben eine Zuwanderungsgeschichte, mehr als 60 Prozent der Familien Anspruch auf staatliche Unterstützung.

Seit diesem Schuljahr ist das Startchancen-Programm angelaufen, das laut Bildungsministerium »größte und langfristigste Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik«. In NRW werden 920 Schulen unterstützt, den Anfang machen 400 Einrichtungen, die dem höchsten Sozialindex zugeordnet sind. 31 Schulen aus Köln sind schon dabei, nächstes Jahr sollen ähnlich viele folgen. Über zehn Jahre sollen Bund und Länder zusammen 20 Milliarden Euro investieren, 4,6 davon fließen nach NRW.  Das Programm soll gleichwertige Bildung für alle ermöglichen und fußt auf drei »Finanzierungssäulen«: Es gibt ein »Investitionsbudget« für die Sanierung und Modernisierung der Schulen, bei dem die Kommunen sich mit 30 Prozent beteiligen müssen, ein »Chancenbudget für bedarfsgerechte Lösungen in der Schul- und Unterrichtsentwicklung« und einen Topf für je eine zusätzliche Stelle in der Schulsozialarbeit oder in multiprofessionellen Teams. Damit soll die Zahl der Kinder, die die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik verfehlen, an diesen Schulen halbiert werden. Ein Viertel der Kinder in der vierten Klasse kann nicht richtig lesen, schreiben oder rechnen, in NRW verfehlt sogar jedes dritte Kind die Anforderungen beim Schreiben. Besonders betroffen sind Kinder aus armen Familien und mit Zuwanderungsgeschichte.

»Anfangs hatte ich große Hoffnungen, doch die schwinden jetzt immer mehr«, sagt Süsterhenn, dessen Schule als einzige Kölner Gesamtschule mit dabei ist. Derzeit laufen Gespräche, die die Wünsche der Schulen und die Möglichkeiten der Stadt Köln ausloten sollen. Auf die Frage, ob die Stadt angesichts der knappen Haushaltslage den geforderten kommunalen Anteil von 30 Prozent für Sanierungen beisteuern kann, bekommt die Stadtrevue zur Antwort: »Die Stadt Köln kann das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht weiter konkretisieren, da die Planungen noch nicht so weit fortgeschritten sind.« Wenn aber die Städte nicht zahlen können, fließen auch keine Bundesmittel in das »Investitionsbudget«.

In den beiden anderen »Finanzierungssäulen« ist das Land Ansprechpartner für die Bildungseinrichtungen. Süsterhenn zählt auf, was er im »Chancenbudget« für wichtig hält:  keine Noten in Stufe 5 und 6, Freiheiten im Lehrplan, um Deutsch und Mathe zu stärken. »Unsere Fünftklässler haben elf Fächer und sind damit völlig überfordert«, sagt er. »Jetzt haben wir auch noch ein aberwitziges Erbe von Ex-Ministerin Yvonne Gebauer und sollen ihnen beibringen, wie sie ihr Geld in Aktien anlegen.« Das Ministerium hat Süsterhenns Vorschläge abgelehnt: Chancen würden nur im Rahmen des geltenden Schulgesetzes ermöglicht. »Die Leute dort sind weit weg von Schulen wie unseren. Ich hätte mir gewünscht, dass wir mehr gehört werden.« Statt Freiheiten im Curriculum soll es einen »Katalog« an Bildungsprojekten außerschulischer Anbieter geben, die die Schulen buchen können. »Wir brauchen keinen Neckermann-Katalog mit Bildungsangeboten. Wir bieten schon tolle Projekte an.«

Anfangs hatte ich große Hoffnungen, doch die schwinden jetzt immer mehrMartin Süsterhenn, Leiter der Katharina-Henoth-Gesamtschule

Anfang Oktober hat Süsterhenn eine Mail von der Bezirksregierung bekommen, dass die sogenannten Integrationsstellen — zusätzliche Lehrerstellen für bessere Sprachentwicklung an Schulen mit hohem Zuwanderungsanteil — gekürzt wurden, eine Begründung wurde nicht geliefert. Von 8,2 Stellen im Oktobober 2017 auf 0,8 Stellen. Der zeitliche Zusammenhang mit dem Beginn des Startchancen-Programms macht ihn stutzig. Werden bestehende Lehrerstellen eingespart, um das hochdotierte Programm zu stemmen? »Es wurden nicht grundsätzlich Integrationsstellen gekürzt bzw. gestrichen.« Es handle sich vielmehr »um eine Verschiebung innerhalb der Handlungsfelder, für die Integrationsstellen zugewiesen werden«, schreibt die Bezirksregierung auf Nachfrage der Stadtrevue. »Dies dürfte in aller Regel nicht dazu führen, dass die Stellen gestrichen wurden, insbesondere bei Schulen in herausfordernden Lagen.« An Süsterhenns Schule aber ist es dennoch passiert.

Wie die Katharina-Henoth-Gesamtschule ist auch die Grundschule Riphahnstraße in Chorweiler dem Sozialindex 9 zugeordnet und damit in einer »herausfordernden Lage«. Auch hier wurden die Integrationsstellen reduziert, von über 50 auf 5 Stunden pro Woche. Für Schulleiterin Gudrun Schlichte sind zu große Klassen und der Personalmangel in Kitas der größte Bildungshemmer. Alle Startchancen-Schulen bekommen eine zusätzliche Stelle in der Schulsozialarbeit oder den multiprofessionellen Teams, mehr Lehrkräfte sind nicht eingeplant. »Am nachhaltigsten wären kleinere Klassen,« sagt Schlichte und verweist auf Hamburg, das sich als einziges Bundesland in den Bildungsstudien stetig verbessert. Dort sind 19 Kinder in Grundschulklassen »in herausfordernden Lagen« — gegenüber maximal 28 in NRW —, es gibt kostenlosen Nachhilfeunterricht und ein verpflichtendes Vorschulprogramm an Kitas. Schlichte hat Hoffnung, dass »ein bisschen was passiert«. Aber ihr fehlt die Analyse, warum Bildung in Deutschland derart elternhausabhängig ist, und der Mut, das Schulsystem umzubauen. »Eine tiefgreifende Schulreform hat in den letzten Jahren nicht stattgefunden.«  

Aus Sicht der Grundschulen ist es wichtig, dass man frühkindliche Bildung in das Programm einbezieht: Mehr Personal in Kitas, mehr Sprachförderung, mehr Kooperationen mit Frühförderzentren, verpflichtenden Kindergartenbesuch mit Vorschulprogramm. »Wir brauchen oft ein ganzes Jahr, um die Kinder auf das Niveau des Schulstarts zu bringen«, sagt Schlichte und betont, dass dies nicht den Erziehern,  sondern der strukturellen Unterfinanzierung geschuldet sei. »Ich wäre bereit, auf Geld, das wir dringend brauchen, zu verzichten, wenn es stattdessen in die Kitas fließen würde.«