Durch die Abgründe
Man muss schon länger grübeln, um sich an ein Konzert zu erinnern, das ein Fest war, ein Zusammenkommen von Freunden und Genossinnen vor der Bühne — und auf der Bühne. Die Goldenen Zitronen 2010 in der längst zu Staub zerfallenen Papierfabrik in Ehrenfeld: Das war so ein Abend! Alles passte, vor allem diese zickige Surrealismus-Bertolt-Brecht-Robert-Wilson-Stimmung, wie sie damals nur das Hamburger Kollektiv zu entfachen vermochte, diese Mischung aus schlecht gelauntem Kabarett, voller Punk-Abfahrt, Billo-Elektronik und Self-Styled-Kostüm-Free-Jazz.
Man kann, ohne mit den Wimpern zu zucken, sagen, dass zwischen 1994 und 2010, über sechs unwiderstehliche gute Alben und zig Touren und Soli-Auftritt hinweg, die Zitronen die Ästhetik des hiesigen Linksradikalismus durch alle Abgründe hindurch gerettet haben. In der Tat einmalig (also diese lange Strecke), und gesetzt ist, dass ihre Alben von den Jüngeren immer wieder neu entdeckt werden.
14 Jahre später feiert die Band ihren 40. Geburtstag. Auf dem aktuellen Pressefoto sieht man alte Leute, die die Requisiten des vielleicht besten Albums der Goldies, »Lenin« von 2006, hochhalten. Es ist die Band selber. Man schaut entgeistert hin: Das Foto impliziert, dass man ebenfalls seit 1994 gealtert ist. Seit 2011 konnte man zudem den Eindruck gewinnen, dass die Band den Touch verliert, nur wenige Alben veröffentlichten sie, musikalisch und gegenwartsdiagnostisch konnten sie nicht mehr an ihre, nun ja, Goldene Ära anknüpfen. Diese zeichnete aus, dass die Form »Song« und das »Medium« Auftritt vieles umfassen kann: eine musikalische Kritik an Punk-Gewissheiten, eine inhaltliche an tödlichen Deutschen Zuständen, eine ästhetische an Rock(star)-Posen. Die Goldenen Zitronen haben das miteinander verschränkt, und dass sie die enorme Spannung, die daraus resultiert, selber nicht immer durchhalten konnten, schmälert nicht ihre Arbeit und auch nicht die Vorfreude auf ihre Jubiläumstour.
Rückblickend fällt auf, wie nachhaltig ihre Fun-Punk-Alben der frühen Jahre, »Porsche, Genscher, Hallo HSV« (1987) und »Kampfstern Mallorca dockt an« (1988), eine Leichtigkeit etablierten, von der noch die grimmig grundierten Polit-Alben ab 1994 (»Das bisschen Totschlag«) profitierten. Am Ende ist doch alles ein großes Kontinuum. Die Band selbst hat noch nie zurückgeschaut und reagiert säuerlich auf Fan-Bitten nach alten Hits. Aber jetzt ist Jubiläum, die Herzen werden weich, und es wäre doch an der Zeit, »Porsche, Genscher, Hallo HSV« live zu würdigen.