Sehen der Realität unterschiedlich ins Auge: Mutter und Töchter, © FilmsB outique, Alamode Film

Die Saat des heiligen Feigenbaums

Mohammad Rasoulof lässt die Nagelprobe für eine konservative iranische Familie böse enden

Die Beförderung Imans zum Untersuchungsrichter bringt den konservativen Familienvater in engen Kontakt mit den Schattenseiten des politischen Systems. Gleichzeitig verfolgen seine halbwüchsigen Töchter Rezvan und Sana aufgeregt den Ausbruch der Bewegung »Frau, Leben, Freiheit«.

Mohammad Rasoulofs jüngster Film ist ein künstlerischer Reflex auf jene Proteste, die seit Spätsommer 2022 den Iran erschüttern. Angesichts von Folter und Todesurteilen ist poetische Ästhetik nicht länger das Hauptkriterium, das iranischen Filmen aktuell zu Preisen und Aufmerksamkeit verhilft. Allein die Ereignisse aus dem Umfeld der Entstehung wären wiederum einen Film wert. Rasoulof dreht überwiegend undercover, wird deshalb regelmäßig zu Haftstrafen verurteilt, schmuggelt seine Filme auf internationale Festivals, erhält dort höchste Auszeichnungen. »Die Saat des heiligen Feigenbaums« ersann er im Gefängnis, wo er zwischenzeitlich einsaß. Die Dreharbeiten sind ein weiteres Beispiel dafür, wie im Iran heute reihenweise Filme entstehen, die mit dem jahrzehntelangen Zensurkanon brechen. Auch Rasoulof zeigt Berührungen zwischen Mann und Frau, deren Verbot Filmschaffende bislang kunstfertig überspielten. Das Kopftuch fällt, wo es im Alltag nicht getragen wird.

Im Iran entstehen heute reihenweise Filme, die mit dem jahrzehntelangen ­Zensurkanon brechen

Die meisten der in Teheran handelnden Szenen drehte Rasoulof in einer Wohnung. Bei den wenigen Außenaufnahmen hielt er sich fern, um kein Aufsehen zu erregen. Der zweite Teil, in einem verlassenen Dorf gedreht, war einfacher umzusetzen.

Als der fertige Film für Cannes nominiert war, wurde Druck auf die Schauspieler*innen ausgeübt, um Rasoulof von der Teilnahme an den dortigen Filmfestspielen abzubringen. Der flüchtete nach Warnungen aus dem Iran, mittlerweile leben auch zwei der Darsteller*innen im westlichen Ausland.

»Die Saat des heiligen Feigenbaumes« protokolliert die Erosion eines patriarchalen Machtsystems. Ehefrau Najmeh verspricht sich von der Beförderung Imans eine größere Wohnung. Auch dann noch, als Iman erkennt, dass er infolge der Unruhen dutzendfach Todesurteile abzeichnen soll, die eigentlich noch geprüft werden müssten. Unterdessen erleben die Töchter, dass die Proteste kein vom Ausland angezettelter Aufruhr sind. Als eine Schulfreundin durch Sicherheitskräfte am Auge verletzt wird, springt die Mutter helfend zur Seite.

Die direkte politische Ansprache ist kennzeichnend für Rasoulofs Werk: »Mansucripts don’t burn« verarbeitete 2013 die »Kettenmorde« an iranischen Intellektuellen in den 1990ern. »Lerd. A Man of Integrity« folgte 2017 dem vergeblichen Kampf eines Bauern gegen korrupte Landbesitzer. »Und das Böse gibt es nicht« schilderte 2020 die zersetzenden Folgen der Todesstrafe. So atmosphärisch gefilmt, so anspielungsreich geschrieben diese Filme auch sein mögen — ihnen fehlt die moralische Ambivalenz der Dramen von Asghar Farhadi, die sich einer abschließenden Wertung entziehen. Sie blicken auch nicht wie Ali Ahmadzadehs »Critical Zone« auf einen »anderen« Iran, der abseits der Schlagzeilen existiert — in der Jugendkultur, im Underground oder in den Provinzen. Rasoulof zeigt nur den »einen« Iran — Menschen, die das System stützen, Menschen, die darunter leiden. Nicht selten sind es dieselben.

Die Katastrophe ist absehbar: Zunächst bekommt die Fassade der konservativen Familie Risse. Dann führt das Verschwinden von Imans Dienstwaffe — gleichbedeutend mit Verlust von Macht, Status, Männlichkeit — zum Zusammenbruch des künstlich aufrechterhaltenen Konstrukts »Familie«. Um den Verbleib der Waffe zu klären, seine Stellung zu sichern und alle wieder auf Linie zu bringen, nötigt Iman Frau und Töchter zu einem Zwangsurlaub auf dem Land. Symbolisierte die kammerspielartige Atmosphäre im Teheraner Appartement noch den durch soziale Konventionen erzwungenen Zusammenhalt, so bedeutet die Weite der verlassenen Berglandschaft Entgrenzung. Für die Bilder des entfesselten Imans ließ Rasoulof sich nach eigenem Bekunden von Kubricks »Shining« inspirieren.

(The Seed of the Sacred Fig) IR/F/D 2024
R: Mohammad Rasoulof
D: Misagh Zare, Soheila Golestani, Mahsa Rostami
167 Min.