Verheddert mit Handlangern
Ich will über meine Gefühle reden, das ist modern. Das eine Gefühl ist so, als ließe ich meine Hand in einen Schraubstock spannen, das andere, als griffe ich in eine Portion lauwarmen Hackfleischs. Ich rede vom Handschlag. Aber Schraubstock oder Hackfleisch, Schmerz oder Ekel, sind kein guter Auftakt für eine Begegnung. Doch dem Handschlag konnte selbst die Corona-Pandemie nichts anhaben, er ist beliebt wie ehedem. Ähnlich dem Virus mutiert der Handschlag zu immer neuen Varietäten. Seit einiger Zeit wird es unübersichtlich.
Selbstverständlich toleriere ich auch beim Handschlag Vielfalt, Buntheit, Diversity. Jedoch darf man die Probleme nicht kleinreden. Denn immer, wenn Normen nicht mehr gelten, Grenzen eingerissen, Regeln als soziale Konstrukte enttarnt werden, entsteht bei aller Euphorie über dieses Empowerment oder wie das heißt eine klitzekleine Verunsicherung. So habe ich mich schon einige Male mit dem, der mir die Hand entgegenstreckte, verheddert oder mir gar die Finger verrenkt, weil nicht klar war, wie man sich angemessen begrüßt! Natürlich könnte man auch hierzu vorschlagen, im Vorfeld Einvernehmen zu erzielen, Bedürfnisse des Gegenübers zu erfragen — aber es ist etwas zeitraubend. »Mein guter Herr Dr. Deutwannes, ich schätze Sie als Physiotherapeuten und als Menschen, wenn auch nicht übermäßig, jedoch in einer Weise, die, wie ich denke, es angemessen erscheinen lässt, dass wir uns zur Begrüßung die Hand reichen, zumal die Ihre, wie ich sehe, ja schon während meines ganzen Geplappers hier in der Luft hängt, was Ihnen als Physiotherapeuten nicht sehr viel ausmachen dürfte, aber doch sicher langsam unbequem wird, nicht wahr? Daher meine Bitte: Schildern Sie mir vorab, in welcher Form der Handschlag nun erfolgen soll, ich bin sicher, wir werden uns schnell einig, Bro!«
Aprobro: Neben dem Umfassen des fremden Daumens beim ultramodernen Handschlag sind auch Klatsch- und Klopfbewegungen weitverbreitet, es hat etwas Kindliches, aber gerade Männer klatschen und klopfen wohl gern. Außerdem gibt es den demonstrativen, übermäßig schlackernden Handschlag, der schier endlos dauert, sobald man im Blitzlichtgewitter der Weltpresse steht. Das Schütteln und Schlackern macht mich beim Zusehen ganz ratlos. Wer schüttelt und wer lässt sich schütteln? Führt hier der Herr die Dame wie bei traditionellen Tänzen? Das wäre äußerst unzeitgemäß! Wenn jedoch ein jeder schüttelt, wie es ihm beliebt, können muskuläre Verspannungen die Folge sein. Fragen Sie Herrn Dr. Deutwannes (falls Sie als Kassenpatient mal einen Termin ergattern)! Jedenfalls lauern in einem exzessiven Handschlag weitreichende Folgen für das persönliche Wohlbefinden, und insofern mittelbar auch für das ohnehin strapazierte Gesundheitssystem und nicht zuletzt die lahmende Wirtschaft.
Wir müssen auch über Handschweiß und Keime reden. Müssen wir, ja, aber wer möchte das lesen? Ich will lieber den Blick nach vorn richten, statt Defizite zu benennen, Zukunftsperspektiven eröffnen, wobei man das Rad nicht neu erfinden muss, und wie immer lohnt ein Blick in die Geschichte (und in den Phrasenkatalog, um hier die Kurve zu kriegen): Nichts ist alternativlos, auch nicht der Handschlag! Es gab früher den Knicks der Dame und den Diener des Herrn, ästhetische, dem Tanz ähnelnde Gesten — und nun tritt für alle Ewigkeiten zum letzten Mal Herr Dr. Deutwannes ins Blitzlichtgewitter dieses Geschreibsels: Denn Knicks und Diener, selbstredend gendersensibel dekontextualisiert oder so, bieten womöglich einen physiotherapeutischen Effekt, wegen der Faszien, Chakren, was weiß ich. Jedenfalls würde ich gern die Menschen mit einem Knicks begrüßen! Dass während der Corona-Pandemie stattdessen der Faustgruß etabliert wurde, zeigt das nicht, wie viel es noch zu tun gibt?