Hygge am Rande der Überforderung
Man muss, hier im Gewerbegebiet am gesichtslosen Rand von Ehrenfeld schon tief in die Einfahrt verschwinden und um zahlreiche Ecke biegen, um zum Studio und Proberaum zu kommen, in dem sich Christopher Annen und Francesco Wilking auf ihre Tour vorbereiten und die ersten Interviews geben. Das Gebäude sieht zunächst aus wie ein besserer Verschlag, der zwischen den Hallen und Fabrikgebäuden halt irgendwie noch seinen Platz finden musste. Aber tritt man herein, öffnet sich eine ganz andere Welt: ein hoher holzverkleideter Raum, gemütlich und intim, mit vielen Vintage-Instrumenten in den Ecken und an den Wänden, für die aber modernste Aufnahmetechnik zur Verfügung steht. Locas In Love nehmen hier ihre Alben auf, das letzte Album von AnnenMayKantereit ist auch hier entstanden.
Man kann diesen versteckten, diskreten und auch hyggeligen Ort durchaus symbolisch nehmen für die Musik von Annen und Wilking: Ihr Album »Alles was ich je werden wollte« erscheint ohne großen Medienrummel, es ist nur eine kleine Tour angesetzt, die Songs wirken skizzenhaft und handeln von Alltagsproblemen und Zuständen, über die man sich locker an einem schönen, klaren Winternachmittag bei einer großen Tasse Tee austauscht. Bevor es zu grüblerisch wird, schnappt sich einer eine Gitarre und spielt ein Lied, hat vielleicht auch was Selbstgeschriebenes im Rucksack.
»Alles was ich je werden wollte«, das sie am 7. Februar im Selbstverlag rausbringen, ist ganz geprägt von dieser ungezwungenen, freundschaftlichen, so beiläufigen wie nerdigen Atmosphäre. Es fällt völlig aus dieser problemgeladenen Zeit und entspricht doch dem dieser Zeit geschuldeten Bedürfnis, gerne an so einem Sehnsuchtsort zu sein und zu seufzen: Mir würde es doch schon reichen, wenn ich meinen Alltag geregelt bekäme. Oder wie Christopher die Songs auf den Punkt bringt: »Es geht um die Probleme, die sowieso da sind. Es ist okay, sich um die zu kümmern.«
»Die Lieder sind Gedankenspiele«, sagt Francesco, »wie etwas, was einem kurz vor dem Einschlafen einfällt — oder kurz nach dem Aufwachen.« Christopher nimmt den Faden auf: »Kurz vor dem Einschlafen — das trifft es eigentlich ganz gut. Denn wenn ich richtig einsteige, wie ein Song gestaltet werden soll, kann ich gar nicht mehr einschlafen, dann liege ich die ganze Nacht wach.«
Den Albumtitel darf man getrost als sanfte Ironie verstehen: Denn in Wirklichkeit lassen Christopher und Francesco alle Ambitionen fahren und haben Spaß an der gemeinsamen Arbeit — an klaren Songs, die im Aufnahmeprozess dann doch witzig (und schließlich recht aufwändig) arrangiert wurden, an Alltagsbeobachtungen und Abschweifungen, an musikalischen Trips an eine imaginäre Westcoast oder einer ebenso imaginären McCartney-Adaption. »Wir kommen beide aus Bands, bei denen es üblich ist, dass man ewig an Songs rumschrauben muss«, sagt Francesco. »Für uns war es erfrischend, dass man einfach mal Sachen schreiben konnte und es dann okay war. Es ging schnell und unkompliziert. Viele Songs hätten noch eine Strophe oder einen Instrumentalteil vertragen können — aber das haben wir nicht gemacht, es war stimmig für uns.«
Ihre Bands sind bekannt (Die Höchste Eisenbahn) bzw. sehr bekannt (AnnenMayKantereit) und dementsprechend mit Erwartungen und Verpflichtungen zugepflastert: »Wenn wir mit AMK ein Album planen, dann wissen wir, dass die nächsten zwei Jahren voll sind, Songs schreiben, ins Studio gehen, die Promo-Maschine, die Tour, die sich dann anschließt … Das war jetzt ganz anders. Wir haben da nichts kalkuliert«, sagt Christopher. »Die Absicht, ein Album aufzunehmen, ist aus dem Prozess heraus entstanden«, ergänzt Francesco: Aus bloß zwei Songs, die während einer Session aufgenommen werden sollten, wurden sechs. Als die beiden sich ein Jahr später, im vergangenen Sommer, zu einer weiteren Session fanden, war schon klar, dass noch mehr daraus werden könnte — ein Album. Christopher: »Ich habe keine Notwendigkeit gespürt, im Gegenteil. Ich fand es einfach cool, dass wir so schnell so viele Songs, mit denen wir beide so glücklich waren, geschrieben haben, dass es total schade gewesen wäre, wenn wir damit nichts weiter gemacht hätten.«
Die Lieder sind Gedankenspiele, wie etwas, was einem kurz vor dem Einschlafen einfällt — oder kurz nach dem AufwachenFrancesco Wilking
»Gut genug« ist vielleicht ein Schlüsselsong des Albums, jedenfalls wenn es um die hier beschworene Stimmung geht: Er schleppt sich lässig dahin, Wilking macht den Anfang mit einer kleinen Beziehungsgeschichte, Annen greift es auf und grübelt über Ambitionen — »Vielleicht hab’ ich schon alles, was ich brauch’/ Obwohl ich noch so vieles will« —, und die Strophen münden jeweils in einen hymnischen, aber underperformeten Refrain: »Es ist gut genug«, das sich wandelt zu: »Wir sind gut genug für uns«.
Ist das Ironie? Oder ein ernstgemeintes Eskapismus-Programm? Beide haben sie über zehn Jahre anstrengendes Band-Business hinter sich, beide haben aber auch nicht vor, ihre Bands zu verlassen. Naheliegend also, dass sie auf dem Album Rollen-Prosa zelebrieren, die einen Anti-Zeitgeist einfängt: Leute, seid nicht so angestrengt, brüllt nicht so viel rum, ladet besser eure Freunde ein und spielt euch eure Lieblingslieder vor. Francesco winkt aber ab: »Wir wollten uns gar nicht so intensiv mit irgendwas auseinandersetzen, es gibt kein übergeordnetes Thema.«
Indirekt thematisiert das Album sehr wohl die Überforderung im Zeitalter der Multikrisen, die sich gerade dadurch bemerkbar machen, dass sie ins alltägliche Geschehen eingreifen und regelrecht zu persönlichen werden. Zwar handeln die Songs von Zuständen des Rückzugs, der Abgeschiedenheit und Selbstbesinnung — aber was bringt das alles, wenn zwischendurch der Strom ausfällt, der Bus zu spät kommt und die Heizung keinem Öko-Standard entspricht? So ganz gelingt der Rückzug eben doch nicht: Das ist die ironische Note, die die Stücke durchzieht. Es ist eben nur ein Rückzug auf Zeit. Für genau diese Zeit versorgen Annen und Wilking uns mit einer warmen, honig-gelben Stimmung. Aber alle wissen: Bald geht es wieder raus, und angenehm ist es dann nicht mehr.
Tonträger: »Alles was ich je werden wollte«, (Annen & Wilking Records/Cargo), erscheint am 7.2.
stadtrevue präsentiert
20.2., Annen & Wiliking, Club Bahnhof Ehrenfeld, jeweils 20 Uhr