Dekolonialisierung in Öl
»Eine antirassistische Agatha-Christie-Verfilmung zu entwickeln, erschien hier nicht bloß wie eine gute Idee, sondern dringend notwendig.« Drehbuchautorin Durga sitzt im Londoner Florin Court in einem Writers’ Room, um an einer Neufassung der Agatha-Christie-Filme mitzuschreiben. Am Vortag noch hat die Kölner Protagonistin gemeinsam mit ihrem indischen Vater Dinesh die Asche ihrer kürzlich verstorbenen Mutter Lila auf einer Wiese verstreut, in einer Kollision von deutscher Friedhofsbürokratie mit indischen Bestattungsbräuchen und latent positiv-rassistischer Indien-Verklärung. Lila war nicht indisch und hatte auch keine indischen Vorfahren. In Rückblenden brechen sich Durgas Erinnerungen an ihre Mutter Lila Bahn, eine westdeutsche Linke, die Zitate indischer Widerstandskämpfer in ihre weißen rheinländischen Tischdecken stickte und einst ein promiskes Leben in einer Kommune führte.
Bei Durgas Ankunft in Florin Court brüllt ihr dann der Mob, der gegen die Neuverfilmung protestiert, entgegen: »Cancelt die Canceler!« Doch es folgen mehrere Tage »Antichristie«, mehrere Tage Debatte, wie weit man geht bei einer race-sensiblen und im besten Fall intersektionalen Agatha-Christie-Überschreibung, die mindestens auch Genderfragen mitdenkt. In einer öligen, bequem konsumierbaren Prosa, dialogstark, sprühend vor Witz und niemals sperrig, erzählt Mithu Sanyal popliterarisch Dekolonialisierung, satt an gegenwartskulturellen Referenzen von »Doctor Who« über Meghan Markle bis zu Writers’-Room-Autorin Shazia, »die über einen Sessel drapiert lag, dessen Schachbrett-Bezug ihren Stil von Decolonized Glamour in Charleston Flapper verwandelte«. Stellenweise ist der Grat zur popkulturellen Übercodierung sehr schmal, aber »Antichristie« macht Spaß.
Von der Orthodoxie, die postkolonialer Theorie und Kunst gerne unterstellt wird, kann bei Mithu Sanyal keine Rede sein
Die Zeitreisen ins London von 1906, die Durga episodenweise in diesem Roman unternimmt, scheinen zunächst in einer dekolonialen Revision von Zeit- und Raumvorstellungen ein Susan-Sontag-Zitat einzulösen, das Sanyal dem Kapitel »Operation London Bridge« voranstellt: »Time exists in order so that everything doesn’t happen all at once, and space exists so that it doesn’t happen all to you.« Auch mit einer statischen Geschlechterordnung, ein zentrales Herrschaftsinstrument kolonialer Regime, räumt der Roman auf. Fasziniert findet Durga, jetzt Sanjeev, wie ihre Eltern sie genannt hätten, wäre sie ein Junge geworden, zwischen ihren Beinen einen Penis. In der Hauptstadt des British Empire geht Sanjeev ein und aus im India House, dem historischen Thinktank des nationalistisch-indischen Unabhängigkeitskampfs, dessen Anführer sich hier regelmäßig in London trafen. Die Romanbühne betreten etwa Mahatma Gandhi und Vinayak Savarkar, den der aktuelle indische Premierminister Narendra Modi, bekannt für seine Islamfeindlichkeit, verehrt. Man liest Frantz Fanon im Londoner India House und redet sich in Rage über das Verbot revolutionärer Zeitungen wie des Indian Sociologist, das die britische Kolonialmacht in Indien verhängte, und man streitet darüber, ob die antikoloniale Bewegung nicht einen Schuss Hindunationalismus und Waffengewalt gebrauchen könnte. Von der Orthodoxie, die postkolonialer Theorie und Kunst gerne unterstellt wird, kann in Mithu Sanyals Roman in der Sache keine Rede sein. Dennoch verrutscht der Roman manchmal in Passagen, in denen man ein historisches Referat Mithu Sanyals hört, und nicht die Figuren, die die Autorin über Strategien dekolonialen Widerstands diskutieren und auch die Singularität des Holocausts debattieren lässt.
In literarischen Sprungbewegungen pendelt der Roman zwischen dem London des frühen 20. Jahrhunderts und der Erzählgegenwart. In ihr ist soeben Queen Elizabeth II. gestorben, Galionsfigur des British Empire, und die tageweise Kapitelstruktur des Romans verdankt sich dem offiziellen royalen Protokoll aus »Operationen« nach dem »Death-Day«. Vom schier unfassbaren Rechercheaufwand zeugen die Kapitel »Abspann« und »Cast & Crew«. »Antichristie« ist ein Roman wie ein gepackter Rucksack, reich gefüllt mit Konserven des historischen Kolonialismus in seiner ganzen Widersprüchlichkeit, aber derart vollgestopft, dass man manchmal nicht alles würdigen kann.
Mithu Sanyal: »Antichristie«, Hanser, 544 Seiten, 25 Euro