Zwiebeln in langer Unterhose

Materialien zur Meinungsbildung

Es war neulich sehr kalt, es ist ja auch noch Winter. Aber mittlerweile ist mir jegliches Zutrauen in die Zuverlässigkeit der Jahreszeiten abhanden gekommen. Da war ich also im Begriff, das Haus zu verlassen, als ich noch einen Blick auf jenes Thermometer warf, das vom Vormieter der Wohnung, ­einem kräftigen Handwerksburschen, außen auf die Fensterbank montiert worden ist, mit dicken, irgendwie altdeutsch wirkenden Schrauben, wie sie ansonsten nur noch im Industriebau zum Einsatz kommen.

Das gesamte Arrangement sieht voll 50’s aus: nach Ingenieurskunst und Erfindergeist, und es funktioniert ohne Fehl und Tadel! Darum höret also! Wenn all eure Wetter-Apps, die eure Augen blind machen, die Wolken zu lesen, die eure Ohren taub machen, dem Wind zu lauschen, wenn all diese Wetter-Apps nur noch zusammenhangsloser Datenschrott sind, vor dem ihr heulend und zähneklappernd euch in den Staub werft, dann wird mir, den ihr so oft verspottet habt, weil mein Handy scheiße aussieht, ja, dann wird mir die Quecksilbersäule dieses Ther­mometers noch getreulich die ­Temperatur anzeigen!

Man kann ihr trauen, dieser Säule, wie man keinem Menschen trauen kann! Und nun zeigte mir dieses Thermometer Minusgrade an (Es geht runter bis minus 30 und hoch bis plus 50! Da sind alle Handys schon kaputt!). Da war ich also im Bilde und der Handlungsdruck enorm! Denn alles, was ich im Kleiderschrank bevorrate, ist auf ein ganzjähriges statistisches Mittel ausgerichtet: 12 Grad Celsius, leicht bewölkt, schwach windig, überwiegend kein Niederschlag, sonst nur mäßig. Es finden sich in  meinem Kleiderschrank daher keine saisonalen Kollektionen.

Ich packe weder im Frühjahr die tonnenhafte Winterjacke weg noch verstaue ich zum Herbst ­kurze Hosen, in denen man auch als Erwachsener immer aussieht wie ein Zwölfjähriger, der laus­bübische Streiche ausheckt.
Wie nun, so wird man sich ­fragen, kommt dann meinereins mit Witterungen zurecht, die signifikant vom statistischen Mittel abweichen? Zwiebel-Look! Dieser gilt zurecht als sehr praktisch. Man dosiert seine Kleidung je nach Umgebungstemperatur, ein quasi stufenlos verstellbarer Hitze- und Kälteschutz. Doch ­treiben Zwiebeln, auch als Look, manch einem die Tränen in die Augen. Gesine Stabroth zum Beispiel — aber vor Lachen! Es waren böse Tränen, die da flossen. »Ja, wie siehst du denn aus? Altkleidercontainer geplündert und keine Tasche dabei gehabt? Ha! Und dann einfach alles gleich mal übergezogen, was?« Ich meine, es steckt sehr viel Dünkel darin, so zu reden. Und überhaupt, wie sieht denn Gesine Stabroth aus? So wie alle jetzt! Früher waren die Menschen im Winter ganz vermummt und vermummelt. Man erkannte sie kaum wieder! Heute hat sich die damals noch gleichmäßig von Kopf bis Fuß verteilte Vermummelung auf die obere Hälfte konzentriert.

Die untere Hälfte der Menschen: stelzenhaft und dürr, die obere Hälfte der Menschen: aufgeplustert und wie wattiert. Das, was die Dame und der Herr von Welt heute als Beinkleid tragen, sieht aus wie lange Unterhose — als seien die Beine textil ­vakuumiert. Darüber aber plustert sich alles auf, die Mäntel oder was das ist, sie wirken wie aufgepumpt! Und die Schals sind groß und ­ausladend wie orientalische Wand­teppiche. Es verleiht den Menschen eine geradezu vogelhafte Kontur. Ich glaube, bei denen piept’s. Ich würde mir ­etwas ­an­deres der Vögel zum ­Vorbild ­nehmen: Sie fliegen weg, wenn es  ihnen zu kalt wird. Uns ist das nicht vergönnt, jedenfalls nicht klimaneutral. Ich habe mir eine lange Unterhose gekauft. Mir ­gefällt die Vorstellung, zeitlos ­elegant gekleidet zu sein, ohne dass es jeder sieht.