»Frau Dibra, ich liebe dich!«

Rufe nach einer härteren Migrationspolitik werden bundesweit immer lauter. Das bekommt Familie Dibra zu spüren, die vor fünf Jahren aus Albanien vor einer Blutrache-Fehde nach Köln floh. Die Familie ist gut ­integriert: Die Mutter möchte in der Pflege ­arbeiten, die Kinder schreiben Bestnoten. Trotzdem droht ihnen nun die Abschiebung

Es ist vielleicht ihr letztes Weihnachten in Köln. Das letzte Mal als Messdienerin Weihrauch schwenken in der Herz-Jesu-Kirche am Zülpicher Platz, das letzte Mal Wichtelgeschenke kaufen für ihre Freundinnen — und das letzte ­gemeinsame Weihnachtsfrühstück mit ihrer Klasse in der Gesamtschule Rodenkirchen. Es könnte das letzte Mal sein — dieser Gedanke geht der zwölfjährigen Luana mittlerweile ständig durch den Kopf, so auch heute, am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien. Luanas Mitschülerinnen und Mitschüler der Klasse 6.4 schauen den ­Animationsfilm »Paddington«, bei dem am Ende alles gut wird und der zugereiste Bär in seiner neuen Heimat bleiben darf.

Für Luana dagegen sieht es derzeit nicht nach einem Happy End aus. Sie, ihr zehnjähriger Bruder Ervin, der siebenjährige Bruder Domenik und ihre Mutter Marina Dibra sollen nach Albanien abgeschoben werden. Vor fünf Jahren war die Familie aus ihrem Dorf im Norden des Landes nach Köln gekommen, auf der Flucht vor ­einer Blutrache-Fehde. Das Leben ihrer Familie sei dort bedroht, so berichtet es Marina Dibra. Deshalb ist auf ­ihren Wunsch der Name aller Familienmitglieder in diesem Text geändert. Wenn sie nach Albanien abgeschoben würden, glaubt sie, müssten sie untertauchen, und auch dann müssten sie um ihr Leben fürchten.

Luana sitzt mit ihren Freundinnen Clara, Laura und Lia im Nebenraum des Klassenzimmers, in der Mitte ist ein Adventskalender mit »24 guten Taten« aufgestellt. Luana öffnet ein Türchen, eine Initiative, die Geflüchtete vor der griechischen Mittelmeerküste aus Seenot rettet, wird vorgestellt. Die Mädchen haben ihre Wichtelgeschenke dabei und Leckereien für die Weihnachtsfeier, die nach dem Film starten soll. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Luana von uns weg muss«, sagt Clara. »Sie gehört doch zu uns«, sagt Laura. Die Freundinnen nehmen Luana in die Mitte und legen den Arm um sie. Clara streicht durch Luanas lange, dunkle Haare: »Sie sind so wunderschön.« Immer, wenn die Mädchen in Mathe, Englisch oder auch Deutsch etwas nicht verstehen, ­fragen sie Luana um Hilfe, erzählen sie: »Sie weiß immer alles und kann super erklären.«

Seit der fünften Klasse sind die Mädchen befreundet. Sonst kichern sie immer viel zusammen, aber jetzt fließen Tränen, nur bei Luana nicht. Jeden Morgen schaut Clara nach, wie viele Menschen schon bei der Unterschriftenaktion mitgemacht haben, die sich dafür einsetzt, dass Luana und ihre Familie in Köln bleiben darf. Bald sind es 50.000. »Wenn so viele Menschen wollen, dass Luana bleiben darf — warum soll sie dann gehen?« Luana zeichnet gerne und hört dazu laute Musik. Auch Klettern, Fußball und Schlittschuhlaufen mag sie. Und natürlich mit ihren Freundinnen zusammen sein, und dann ist da noch ihre Aufgabe als Messdienerin, ­jeden Sonntag in der Herz-Jesu-Kirche. Luana will Anwältin werden und hat fest vor, in Köln Abitur zu machen.

»Ich weiß gar nicht, ob das in Albanien auch geht, weil wir ja gar nicht wissen, wo wir dann leben.« Luana hat kaum noch Erinnerungen an ihre frühere Heimat. Nur, dass sie in einem Dorf wohnten. Ein paar Fotografien aus ihrer Kindheit sind die einzigen Überbleibsel. Köln ist für sie schon lange zur Heimat geworden: »Hier ist unser Zuhause.« Ihr siebenjähriger Bruder war kaum zwei Jahre alt, als sie in Köln Zuflucht fanden. »Er kann nicht so gut Albanisch«, sagt Luana. »Wo sollen wir da zur Schule gehen? Sind die Lehrer da auch so nett?«, fragt sie sich.

Eine Abschiebung würde »für unsere Schulgemeinschaft eine wirkliche ­Tragödie bedeuten«, schrieb die Schule
an die Ausländer­behörde

Luanas Klassenlehrerin heißt Birthe Schwarz. Sie ­erzählt, Luana sei eine der besten Schülerinnen in der Klasse, in den meisten Fächern stehe sie auf Eins. Und sie sei wichtig für das soziale Miteinander in der Klasse, weil sie mit ihrer freundlichen, hilfsbereiten Art bei Streite­reien vermittle und von allen geschätzt werde. »Ich kann mir keine bessere Integration vorstellen«, sagt Schwarz. Als sie der Klasse von der bevorstehenden Abschiebung berichtete, erzählt die Lehrerin, seien viele Kinder in ­Tränen ausgebrochen. Luana habe im Nebenraum ge­wartet, weil sie die Fassung bewahren wollte. Außerdem stehe sie nicht gerne im Mittelpunkt. Birthe Schwarz startete daraufhin mit einer Kollegin die Unterschriftenkampagne, Lehrkräfte und Eltern mobilisierten in ihrem Umfeld. »Diese Ungerechtigkeit wühlt die Menschen auf«, sagt Schwarz.

Birthe Schwarz sorgt sich um die psychische Gesundheit von Luana und ihren Geschwistern, wenn sie tatsächlich abgeschoben würden. Nach ihrer Ankunft in Köln litt Luana unter Angststörungen und wurde psychologisch begleitet. »Eine Rückkehr nach Albanien würde ihre schulische und persönliche Entwicklung massiv gefährden«, glaubt Birthe Schwarz. Auch der Lehrerin kommen nun die Tränen. »Die Klasse ohne Luana — das kann und will ich mir nicht vorstellen. Das darf nicht passieren.«

Eine Abschiebung würde »für unsere Schulgemeinschaft eine wirkliche Tragödie bedeuten«, schrieb die Schule in einem Brief an die Ausländerbehörde. An der Gesamtschule Rodenkirchen würden die Kinder lernen, »dass Integration, Leistungsbereitschaft, Hilfsbereitschaft und gesellschaftliches Engagement anerkannt und belohnt werden. Eine Abschiebung würde dieses Verständnis von Menschlichkeit zutiefst erschüttern.« Dies würde sich negativ auf die Entwicklung des Demokratieverständnisses auswirken, so die Schule weiter.

An einem Tag Anfang Januar schließt Marina Dibra die Tür zum Gemeinderaum der Herz-Jesu-Kirche am Zülpicher Platz auf. Sie bereitet alles vor für das Café ­»Offenes Hätz«, das mehrmals im Monat für Obdachlose öffnet. »Es gibt so viele Menschen, die Hilfe brauchen«, sagt Dibra. An ihren Ohren trägt sie Schmuck in Form von kleinen Kreuzen. Ihre Verbindung zur Gemeinde wuchs, als ihre Kinder dort vor Jahren Nachhilfe bekamen. Marina Dibra begann, jeden Sonntag die Gottesdienste zu besuchen, sie ließ sich taufen, ihre Kinder feierten Kommunion und wurden Messdiener. Dibra sah, wie die Gemeinde sich um Bedürftige kümmert, sie mit Lebensmitteln versorgt und zu Kaffee und Kuchen einlädt. Irgendwann, erzählt sie, habe sie den Pfarrer gefragt, ob sie nicht mithelfen könne. Seither putzt sie, kocht und räumt auf, nicht nur im Café »Offenes Hätz«, sondern wann immer in der Kirche ein Fest oder ein Glaubenskurs stattfindet.

In der Gemeinde fühle sie sich eigentlich geborgen, sagt Dibra. Doch seit die Abschiebe-Ankündigung kam, wird sie von Ängsten übermannt. Das Sprechen fällt ihr schwer, sie kann die Tränen kaum zurückhalten. »Ich ­verstehe es nicht. Ich habe doch alles gemacht, damit ich hierbleiben kann«, sagt sie. Sie besucht die Schule, um ­ihren Hauptschulabschluss nachzuholen. Ihr albanischer Schulabschluss wird hier nicht anerkannt. Sie hilft in der Kirche, sie hat ein Pflegepraktikum und eine Ausbildung zur Betreuungsassistentin absolviert. Die Alexianer, bei denen sie das Praktikum gemacht hat, boten ihr gleich eine Stelle an. Auch eine Privatperson stellte ihr einen Minijob als Alltagshelferin in Aussicht. Beides darf sie ohne Aufenthaltserlaubnis jedoch nicht antreten, weil sie als Staatsangehörige eines »sicheren Herkunftslands« nicht erwerbstätig sein darf.

Doch die Umstände schienen so günstig, dass Dibra einen Schritt nach vorne wagte. Unterstützt von einer ­ehrenamtlichen Helferin und einem Anwalt, beantragte sie eine Aufenthaltserlaubnis nach Paragraf 25b des ­Aufenthaltsgesetzes, also aufgrund von »nachhaltiger ­Integration«. Sie legte unter anderem das Schreiben der Alexianer bei, ihr Ausbildungszertifikat, Schulbescheinigungen. Auch ein Nachweis über den abgelegten Test ­»Leben in Deutschland« war dabei, den sie mit null Fehlern bestand, sowie ein Schreiben des Pfarrers, der Marina Dibra für ihre Hilfe dankte und schrieb, sie und ihre Familie seien eine »wertvolle Bereicherung für unsere Gesellschaft«.

Doch das reichte dem Kölner Ausländeramt nicht. Marina Dibra erfülle nicht die Voraussetzungen für einen Aufenthalt wegen nachhaltiger Integration — weil sie ­ihren Lebensunterhalt nicht sichern könne. Dies sei ihr aktuell zwar wegen des Arbeitsverbots auch nicht möglich, aber: Man könne ihr »aufgrund ihrer bisherigen ­Erwerbsbiographie« auch keine gute Prognose für die ­Zukunft stellen. Das ehrenamtliche Engagement sei zwar »sehr löblich«, jedoch »nicht vergleichbar mit Anstrengungen und Arbeitsbereitschaft, die bei der beabsichtigten Beschäftigung täglich« geleistet werden müssten, ­befand das Amt. Außerdem habe sie es bisher nicht geschafft, einen deutschen Schulabschluss zu erwerben.

Ihr Anwalt Christian Kaldenhoff hat gegen die Entscheidung des Ausländeramts geklagt. »Frau Dibra und ihre Kinder sind bestens integriert«, so Kaldenhoff. Die Mutter wolle in einem Pflegeberuf arbeiten, in dem großer Fachkräftemangel herrsche, und habe ja auch bereits konkrete Arbeitsverträge angeboten bekommen. Zudem sei sie ehrenamtlich engagiert. Wenn es um Prognosen zum künftigen Erwerbsleben der Menschen geht, hat das Ausländeramt einen Ermessensspielraum, »der allerdings vorliegend auf null reduziert sein könnte. Das muss nun gerichtlich überprüft werden«, so Kaldenhoff. Das Amt hätte, so der Anwalt, auch eine zeitlich befristete Aufenthaltserlaubnis erteilen können. Dann hätte Marina Dibra die Chance bekommen, ihre »Arbeitsbereitschaft« unter Beweis zu stellen. Stattdessen könnte die Familie nun abgeschoben werden: »Rechtliche Hindernisse gibt es Stand jetzt nicht: Kein Familienmitglied ist krank, Pässe sind vorhanden. Und der Druck in der Öffentlichkeit ist groß, dass Abschiebungen auch vollzogen werden.«

Die Zahl der Abschiebungen ist deutschlandweit gestiegen, Köln macht da keine Ausnahme. Der mit Abstand häufigste »Rückführungsstaat«: Albanien

Die Zahl der Abschiebungen ist deutschlandweit ­gestiegen. Köln macht da keine Ausnahme: Allein von ­Januar bis September 2024 ließ die Zentrale Ausländerbehörde Köln 155 Menschen abschieben, 2023 waren es 134. Hinzu kommen die Abschiebungen durch die kommunale Ausländerbehörde, deren Zahlen für 2024 noch nicht vorliegen. Sie ist für Personen zuständig, die schon seit längerem in Köln leben — in einer kommunalen Unterkunft oder auch in der eigenen Wohnung, so wie Familie Dibra. »Ja, die Zahlen steigen, aber sie sind nicht so hoch, wie man das angesichts der politischen Großwetterlage erwarten könnte«, sagt Claus-Ulrich Prölß vom Kölner Flüchtlingsrat. Der in Köln mit großem Abstand häufigste »Rückführungsstaat«: Albanien.

Wann das Verwaltungsgericht über die Klage von ­Marina Dibra entscheidet, ist völlig offen. Die Richter sind überlastet, der Rückstau am Gericht ist groß. Weil die ­Familie in der Zwischenzeit trotzdem abgeschoben werden könnte, hat ihr Anwalt Christian Kaldenhoff einen Eilantrag gestellt, der »aufschiebende Wirkung« haben soll. Der Antrag wurde abgewiesen, der Anwalt legte hiergegen Beschwerde ein. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts dazu kann nun jederzeit fallen.

Doch die Hoffnungen der Familie ruhen auch noch auf ­einem weiteren Gremium. Am 17. Februar tagt die »ausländerrechtliche Beratungskommission« der Stadt Köln, in der auch Vertreter des Ausländeramts sitzen. Sie kann zwar keine Entscheidungen treffen, aber nach weiteren rechtlichen Möglichkeiten suchen, wie die Familie vielleicht doch noch bleiben kann.Marina Dibra kommen erneut die Tränen. Nur zweimal hellen sich an diesem Vormittag ihre Augen auf: Als das Gespräch auf ihre Kinder kommt, die so fröhlich sind, die so gute Noten schreiben. Die in der Schule und der Gemeinde so beliebt sind. Und, als sie von ihrem Praktikum bei den Alexianern erzählt. »Die Menschen dort haben mich sofort ins Herz geschlossen«, sagt sie. »Frau Dibra, ich liebe dich«, hätten manche gesagt, und eine Frau habe sogar geweint, als sie nach zwei Wochen wieder gegangen sei. Dass ihre Familie bleiben kann, und dass sie bei den alten Menschen arbeiten kann: »Das wäre mein größter Wunsch.«