Kölner Weltbürger
Als Gerhart Baum 90 wurde, im Oktober 2022, gab es eine offizielle Würdigung im Rathaus mit der Oberbürgermeisterin, Ministern und politischer Prominenz. Daneben eine zweite Geburtstagsfeier im Brauhaus Früh am Severinstor, zu der Baum seine Zeitungsfrau, den Obsthändler oder die Freundin aus dem Strumpfhaus am Chlodwigplatz eingeladen hatte, dazu viele Freunde und Bekannte aus der Nachbarschaft. Die Köbesse im Brauhaus kannte er alle mit Namen.
Baum war kein Kölscher, aber Kölner. 75 Jahre hat er hier gelebt und wird gleichwohl eher als Bundesminister, Menschenrechtsanwalt oder Weltbürger annonciert. Zur Welt gekommen in den letzten Tagen der Weimarer Republik, erlebte Baum als Jugendlicher die Zerstörung seiner Geburtsstadt Dresden, floh mit der Mutter nach Bayern und machte 1950 in Köln sein Abitur, wo die Familie inzwischen lebte. Früh trat er in die FDP ein, angezogen von der Idee der Bürgerrechte. Die CDU war ihm zu konservativ-katholisch und die SPD sah er noch nicht in der Marktwirtschaft angekommen. Schon bald kämpfte Baum gegen die Alt-Nazis in seiner Partei. Er gehörte 1971 zu den Autoren der Freiburger Thesen der FDP, die früh einen sozialen Liberalismus vertraten, der nicht nur für die Freiheit des Einzelnen, sondern der Gesellschaft eintrat, das Eigentum nicht als Selbstzweck definierte, Gleichberechtigung und Bildung für alle verlangte und schon lange vor den Grünen auch Thesen zum Umweltschutz formulierte.
Bis 1972 war Gerhart Baum Vorsitzender der FDP-Fraktion im Kölner Stadtrat. Seiner Stimme ist entscheidend das 100-Millionen-Programm gegen Wohnungsnot und Obdachlosigkeit zu verdanken, das der Stadtrat 1972 einstimmig verabschiedete. Jüngst noch hat Baum bei einer Veranstaltung in der Karl-Rahner-Akademie daran erinnert und den derzeitigen Rat zu einem vergleichbaren Kraftakt heute beim Sozialen Wohnungsbau aufgefordert.
Wir haben uns erst spät kennengelernt, und für mich wurde Gerhart Baum zu einem wichtigen Gesprächspartner und Freund. Er gehört zu denen, die uns immer wieder und mit großer Vehemenz auf die Voraussetzung von Gerechtigkeit hinwiesen, nämlich die Freiheit. So hielt er die Erklärung der Menschenrechte von 1948 für das entscheidende Dokument, in dem der Mensch als Maß aller Dinge einer neuen normativen Ordnung definiert ist. So ist es auch kein Zufall, dass Gerhart Baum im Deutschen Bundestag die Laudatio zum 75. Jahrestag des Grundgesetzes hielt.
Baum war seit 1978 Bundesinnenminister in der sozialliberalen Koalition, beendete in seiner Amtszeit die Regelanfrage beim Verfassungsschutz, also das Verfahren zum »Berufsverbot«, er war der erste Politiker, der mit Mitgliedern der RAF sprach. 1982 legte er mit dem Ende der sozialliberalen Koalition sein Ministeramt nieder. Doch blieb er seiner Profession treu und seiner liberalen Leidenschaft. Andere Rentner fliegen in die Karibik, aber Gerhart Baum fuhr nach Karlsruhe und erhob dort mit Verbündeten erfolgreich Verfassungsbeschwerden gegen den legalisierten Lauschangriff, gegen Online-Durchsuchungen oder gegen Details von BKA-Gesetzen.
Andere Rentner fliegen in die Karibik, Baum fuhr nach Karlsruhe und erhob erfolgreich Verfassungsbeschwerden
Gleichzeitig war Gerhart Baum ein ambitionierter Kulturpolitiker, Mitglied im Rundfunkrat, ein hochgebildeter Bürger, engagiert im Kulturrat der Stadt und des Landes, Kenner vor allem der musikalischen Avantgarde und tief überzeugt von der Wichtigkeit und Notwendigkeit von Kunst.
Und genauso engagierte er sich bei Projekten wie dem »Vringstreff«, einem Hilfsangebot für Wohnungslose im Severinsviertel, oder dem »Kölner Appell« mit seiner Kampagne zur Verbesserung der Haftbedingungen in den Justizvollzugsanstalten. So vielfältig engagiert, war es konsequent, dass Gerhart Baum 2023 von einem Kölner Bürgerkomitee zusammen mit der Aktivistin für Obdachlose, Linda Rennings, zum »Alternativen Ehrenbürger« der Stadt ernannt wurde.
Gerhart Baum ist eine Woche vor der entscheidenden Bundestagswahl gestorben und man wüsste gern, ob er schon gewählt hat oder was er gewählt haben würde. Doch vielleicht gilt noch, was Jürgen Becker bei der Alternativen Ehrenbürgerschaft hervorhob: »Er ist ein Streiter für Freiheit und Menschenrechte, ein engagierter Bürger seiner Stadt und ein Vorbild für viele. Er ist zwar in der FDP, aber hochanständig!«