Ein emotionaler Weg Foto: ©Ex Nihilo, Les compagnons du cinéma, StudioCanal, France 3, Les films du Fleuve 2024

»Ich wollte nie einen Film über die Schoah machen«

Michel Hazanavicius erzählt ein ungewöhnliches Märchen mit humanistischer Botschaft

Darf man einen wunderschön anzusehenden Film über die Schoah drehen? Dieser Frage musste sich Michel Hazanavicius (»The Artist«) stellen, als er Jean-Claude Grumbergs »Das kostbarste aller Güter« verfilmte. Das 2019 veröffentliche Jugendbuch ist ein »Märchen über den Holocaust«, so steht es tatsächlich auf einigen Ausgaben.

Grumbergs Vater, ein rumänischer Jude, der vor dem Zweiten Weltkrieg nach Frankreich emi­grierte, wurde nach dem Einmarsch der Wehrmacht deportiert. Grumberg, ein enger Freund von Michel Hazanavicius’ Eltern, erzählt in seinem Buch von einem Holzfäller und dessen Frau. Die namenlose Frau wünscht sich sehnlichst ein Kind — und findet eines Tages einen Säugling, der aus einem durchfahrenden Zug geworfen wurde. Es ist das Kind einer jüdischen Familie, die nach Auschwitz deportiert wird. Der Vater ahnt, welches Ende sie erwartet und hofft das Baby zu retten.

Hazanavicius hat daraus einen bewegenden und, ja, wunderschön anzuschauenden, Animationsfilm gemacht, mit Charakteren, die er gezeichnet hat und Landschaften, für die er und sein Team sich von russischer Landschaftsmalerei inspirieren ließen. Er sagt: »Für mich war es von Anfang an klar, dass wir mit Animationen arbeiten. Es befreit dich vom Zwang des Realis­mus. Die Schoah ist Teil meiner Familiengeschichte, aber trotzdem habe ich nie einen Film darüber machen wollen. Ich fühlte mich nicht dazu legitimiert. Es betraf vor allem meinen Großvater. Meine Eltern konnten sich im besetzten Frankreich verstecken, aber ich bin im Paris der 70er und 80er aufgewachsen. Meine Jugend war das Paradies.«

Er schaue sich ehrlicherweise auch nicht viele Filme über den Holocaust an: »Ich weiß, was ich fühlen und was ich denken soll. Es ist, als ob ich den emotionalen Weg schon kenne, bevor er beginnt.« Aber dann habe er das Buch gelesen, und es sei ganz anders gewesen als alles, was er vorher über das Thema gesehen habe. »Erstens, weil es ein Märchen ist, das der Geschichte eine universelle Tragweite verleiht. Zweitens, ist es keine Geschichte über Juden, Deutsche oder Polen. Es geht um die Archetypen des menschlichen Wesens.« Genau das habe er — aber auch Grumberg — zeigen wollen: »Der Holzfäller, seine Frau und auch der entstellte Veteran aus dem Ersten Weltkrieg, der ein wichtiger Helfer wird, entdecken, dass sie recht­schaf­fene Menschen sind. Sie tun das, was ihnen menschlich richtig erscheint.« Das sei die Botschaft des Films für ihn: »Selbst wenn die Welt um dich herum moralisch vor die Hunde geht, hast du immer die Wahl, ein guter Mensch zu sein.«

Mit der Zeit habe er aber noch einen weiteren Antrieb gespürt, so Hazanavicius: dass er nie den richtigen Weg gefunden hatte, mit seinen Kindern über den Holocaust zu sprechen. »Meine Frau sagte mir irgendwann: ›Sie wissen gar nicht so viel darüber. Und wenn das schon bei den Enkeln einer von der Schoah betroffenen Familie so ist — wie ist es dann erst bei den anderen?‹ Und sie legte mir nahe, ich solle diesen Film machen.«
Der Film war in Frankreich ein erstaunlicher Erfolg. Ohne, dass es der Verleih groß geplant hätte, mel­deten sich zahlreiche Lehrer:innen, um Gruppenvorführungen zu buchen. »Sie merkten, dass der Film ein guter Ausgangspunkt für die Vermittlung der Geschichte ist.« Hazanavicius stellte sich den Fragen der Klassen. »Da saßen dann Kinder von zwölf bis 18 Jahren, aus allen sozialen Schichten, aus allen Religionen, aus allen Teilen der Welt — und sie alle hatten eine starke emotionale Verbindung zu dem Film. Auch, weil es ein Märchen ist und weder das Wort Jude noch das Wort Nazi ausgesprochen wird.«

Bleibt die Frage, ob es jetzt, wo rechte Kräfte immer lauter und mächtiger werden, eine besonders gute oder schlechte Zeit für einen Film wie diesen ist. »Unsere Zeit ist gerade so fürchterlich negativ, laut und gewalttätig«, so Hazanavicius. »Aber ich glaube fest daran, dass man darauf nicht mit Gewalt antworten sollte. Einen Film wie diesen zu bringen, der im Kern friedlich und humanistisch ist, obwohl er von schrecklicher Gewalt erzählt, ist für mich ein guter Weg. Es kann nicht die einzige Antwort sein und es ist nicht die Lösung, aber zumindest ich fühle mich wohl mit dieser Art von Botschaft. Vor allem, weil sie sich an die Kinder richtet — die es hoffentlich eines Tages besser machen als wir.«

(La Plus Précieuse Des Marchandises), B/F 2024, R: Michel Hazanavicius, 81 Min., Start: 6.3.