Michelangelos Flügel
Wenn Michelangelo keine Flügel hatte, muss ihm jemand ein Gerüst gebaut haben, das es ihm ermöglichte, sein Gemälde an die Decke der Sixtinischen Kapelle zu pinseln. Ebenso muss jemand Keith Jarrett 1975 einen Flügel auf die Bühne gestellt haben, damit er die gut einstündige Solo-Klavier-Improvisation spielen konnte, die als »The Köln Concert« in die Musikgeschichte eingegangen ist. Ein paar hundert Jahre liegen zwischen den Ereignissen, bei denen man als Spätgeborener jeweils gerne dabei gewesen wäre. Mit Ido Fluks Spielfilm »Köln 75« erhält man nun zumindest Gelegenheit, mehr über die Umstände des von Mythen umrankten Jarrett-Auftritts in der Kölner Oper zu erfahren, beziehungsweise über dessen Gerüst, wie es zu Beginn des Films in Anlehnung an Michelangelo heißt.
Längst ist bekannt, dass es der falsche Flügel war, der den müden Jarrett vor 50 Jahren in der Oper erwartete. Dort stand kein Bösendorfer Imperial, auf dem er üblicherweise zu improvisieren pflegte. Aber dieses finale Kapitel der turbulenten Geschichte hier schon weiter zu erzählen hieße, die Pointe eines immer wieder überraschenden Plots vorwegzunehmen, dessen eigentliche Hauptfigur die Konzertveranstalterin Vera Brandes ist. Die damals 18-Jährige hatte sich bereits einen Namen als Promoterin gemacht, bevor sie den Kölner Gig für Jarrett eintütete. Aber die Umstände ihrer Arbeit waren in vielerlei Hinsicht prekär, wie man erfährt. Brandes führte heftige Auseinandersetzungen mit ihrem Bruder und ihrem Vater. Mala Emde spielt den Teenager, dessen kreative Energie die beiden Männer mit patriarchaler Autorität einzudämmen versuchen. Beim Bruder äußern sich die Komplexe in dumpfer Verbitterung, beim Vater schlagen sie in physische Gewalt um. Ulrich Tukur verkörpert einen Fiesling, den man nicht mal mit der Pinzette anfassen will, während man John Magaro als melancholischen Keith Jarrett immerzu in den Arm nehmen möchte.
Es sind all diese Umstände, die Vera Flügel verleihen. Statt dem familiär vorgegebenen Weg in eine sichere bürgerliche Existenz zu folgen, plant sie ins Musikbusiness einzusteigen. Mit 16 bucht sie eine Tour für den Jazzmusiker Ronnie Scott. Doch um das ehrgeizige Vorhaben mit Jarrett in die Tat umzusetzen, dessen Solo-Shows selbst hartgesottene Jazz-Fans als Herausforderung betrachten, während anderen Jazz in der Morgendämmerung von Punk bereits als überholt gilt, braucht sie ein Darlehen der Eltern. Dafür lässt sie sich auf einen Deal mit der Mutter ein. Sollte das Konzert ein Reinfall werden und sie die 10.000 D-Mark nicht zurückzahlen können, muss sie ihren Traum begraben und als Zahnärztin in die Fußstapfen des Vaters treten. Den Batzen Geld verlangte übrigens nicht der Künstler, nein, die Kölner Oper ließ es sich teuer bezahlen, das experimentelle Event zu später Stunde nach der regulären Aufführung der Alban Berg-Oper »Lulu« zu erlauben.
John Magaro als Keith Jarrett möchte man andauernd in den Arm nehmen
Die Quittung jener Nacht vor vollem Haus, die dem Publikum den Atem raubte und sogar zur Aufnahme der bis heute meistverkauften Jazz-Soloplatte überhaupt führte, erhält Vera Brandes’ Vater hier in Form einer heftigen Abrechnung. Zur Geschichte gehört aber auch, dass die kluge Veranstalterin den sensiblen Keith Jarrett nicht nur mit Samthandschuhen anfasste, um ihr Ziel zu erreichen. Im Angesicht der drohenden Katastrophe — Jarrett wollte wegen des »kaputten« Flügels partout nicht auftreten, und es blieben Vera nur wenige Stunden, um das richtige Klavier doch noch zu beschaffen — fand sie eine Lösung, die es dem Künstler sogar ermöglichte, seiner eigenen Idee von Musik neue Impulse zu verleihen.
Der Einsatz des Scores, Referenzen wie Auslassungen, gehört zu den Stärken von »Köln 75«, wobei sich die Handlung dank wechselnder Stimmungsintensität am Rhythmus des Köln Concerts zu orientieren scheint. So verdeutlicht die triste Anreise im Auto nach Köln den künstlerischen und finanziellen Druck, unter dem Jarrett stand. Letztlich trafen sich Brandes und er irgendwo in der Mitte, was die hochfliegenden Ambitionen sowie die realen Bedingungen ihres Tuns anbelangt. Das Kölner Filmpublikum wird nebenbei schmerzhaft daran erinnert, dass heute zunächst einmal die Oper wiederhergestellt werden müsste, bevor man sich Gedanken über den Flügel machen könnte. Vielleicht sollte die Stadt Vera Brandes um Hilfe bitten. Sie kann offensichtlich Wunder vollbringen.
D/ PL/ B 2024, R: Ido Fluk, D: Mala Emde, John Magaro, Ulrich Tukur, 122 Min., Start: 13.3.
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