Misericordia
In »Misericordia« sieht sich ein Dorfpolizist mit der »Macht der Begierde« konfrontiert. Soeben ist dem Beamten eine neue Erklärung aufgetischt worden, warum Protagonist Jérémie den Verbleib des Familienvaters Vincent angeblich nicht kennt, obwohl er mit dem einstigen Jugendfreund in der Nacht seines Verschwindens zusammen war. Die Polizeibefragungen haben ergeben, was das Publikum dank der konsequent an die Hauptfigur gebundenen Erzählperspektive ohnehin weiß: Der geheimnisvolle Jérémie, der zum Begräbnis von Vincents Vater Jean-Pierre angereist war, hatte seinem alten Bekannten Walter unerwartet sexuelle Avancen gemacht, worauf der Vermisste ebenso eifersüchtig reagierte wie auf den Verdacht, der Gast habe ein Auge auf die frisch verwitwete Martine geworfen.
Doch für den Dorfpolizisten wird es noch komplizierter: Eine weitere Person hat ausgesagt, von Jérémie bezirzt worden zu sein. Das führt die Addition von Geilheit und Eifersüchtelei in diesem Fall allmählich ad absurdum. Nach allgemeinem Verständnis kann Begierde ja kaum so wahllos gestreut werden, dass sie jedes Kriterium von Geschlecht, sexueller Orientierung, Alter, Aussehen ignoriert. Regisseur Alain Guiraudie hat zu seinem siebten Spielfilm wie gewohnt auch das Drehbuch verfasst. Er lädt zum Schmunzeln ein, wenn er den Dorfpolizisten wie oben beschrieben über die Begierde spekulieren lässt, während er vielsagende Blicke mit einer Kollegin tauscht.
Die uniformierten Nebenfiguren sind erkennbar dem Rollenrepertoire von Krimikomödien entliehen. Der Filmemacher gewinnt dem Genre schöne Nuancen ab, etwa bei der Darstellung des Handlungsortes: Auf den Dorfstraßen ist fast niemand zu sehen, aber kaum eine Heimlichkeit bleibt unbeobachtet.
Panoramaaufnahmen, in denen Laub in Herbstfarben erstrahlt, machen bewusst, dass das südfranzösische Kaff Saint Martial von ausgedehnten Wäldern umgeben ist. Entsprechend kurios ist, dass Jérémie bei keinem Waldspaziergang allein bleibt, weil sich im Gehölz stets auch Vincent, die Dorfpolizei, der örtliche Pfarrer oder gleich mehrere Genannte tummeln.
Das weckt Erinnerungen an »Immer Ärger mit Harry«, wobei in »Misericordia«, anders als in jenem Hitchcock-Klassiker, tatsächlich ein Verbrechen im Zentrum der locker mäandernden Handlung steht. Umso verblüffender, wie fein Guiraudie den Erzählton moduliert: Dass sein Film amüsant wirkt, verdankt sich nicht einfach einer Lust am Makabren. Zwar befremdet, dass die Inszenierung einen Gewaltausbruch als nachrangig behandelt, doch diese Gewichtung folgt durchaus logisch aus der besagten Macht, die der Filmemacher den Begierden ernsthaft zumisst — inklusive (a-)moralischer Konsequenzen.
Inwiefern ist Intimität für Sex erforderlich beziehungsweise verträglich?
In groben Zügen variiert Guiraudie die Konstellation von »Der Fremde am See«, mit dem er 2013 international bekannt wurde. Schon jenes Meisterwerk warf die Frage auf, inwiefern unerwiderte Liebe glücklich machen kann und Intimität für Sex erforderlich beziehungsweise verträglich ist. Da der Plot jenes Thrillers sich an einem Nacktbadestrand abspielte, der schwulem Cruising diente, war der Fokus aufs Körperliche gerichtet.
Dagegen ist Nacktheit in »Misericordia« so selten, dass ein halb erigierter Penis sogleich als beiläufiger Gag wirkt. Weil rasendes Begehren hier keine Erfüllung findet, schillert es jedoch in umso reizvollerer Unbestimmtheit. Aus einem einzigen Dialog mit Martine ist zu schließen, dass Jérémie sich in den kürzlich verstorbenen Jean-Pierre verliebt hatte, als er bei ihm in die Lehre ging. Der denkbar kurze Wortwechsel deutet zugleich an, dass der Bäckermeister von dieser ungebrochenen Liebe nichts ahnte — im Gegensatz zu seiner Ehefrau. Erst recht unklar bleibt derweil, inwieweit die Freundschaft und Eifersucht, die den Protagonisten in Jugendjahren mit Vincent und Walter verband, eine physische Komponente enthielt.
Unter solch unbestimmten Vorzeichen scheint jede Spielart des Begehrens denkbar. Derweil gleicht es einem utopischen Versprechen, dass jemand beteuert, die Objektwahl erotischer Liebe sei so beliebig erlernbar wie jene der christlichen Nächstenliebe. Der Reiz libidinöser Vieldeutigkeit verdankt sich in diesem einzigartigen Film jedenfalls nicht zuletzt dem spät einsetzenden Moraldiskurs, dessen sophistische Doppelbödigkeit zart von Humor gefärbt bleibt.
Miséricorde F/E/P 2024, R: Alain Guiraudie, D: Félix Kysyl, Catherine Frot, Jean-Baptiste Durand, 103 Min., Start: 6.3.
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