Noir unter Palmen
»Die meisten Mörder sind nicht schlau«, sagt der Polizist Cohen in Lavie Tidhars Roman »Maror«: »Die sind wie Polizisten. Wenn sie schlau wären, hätten sie was anderes aus ihrem Leben gemacht.« Es ist das Jahr 1974, und Cohen hat gerade bei der Spurensuche zu einem Mord an einer jungen Frau nur Müll gefunden. Er ist die Hauptfigur dieses Kriminalromans, der rund 35 Jahre israelischer Geschichte erzählt und sich dabei — wie es sich für einen Krimi gehört — vor allem den Schattenseiten widmet: Drogenhandel, Gewalt, Korruption.
Für »Maror« sei er zum »historischen Detektiv« geworden, sagt Tidhar selbst. Denn sein Roman basiert auf historischen Ereignissen, deren Zusammenhang er selbst recherchiert hat: eine Reihe von Morden an jungen Frauen in den 70er Jahren, für die ein Mann fälschlicherweise im Knast landete; ein Festival in den 90ern, das mit der Ermordung Yitzak Rabins ein abruptes Ende fand und eine Autobombe aus den frühen Nuller Jahren, die einem Unterweltsboss galt, aber zwei Kinder tötete. Sie alle hängen mit einer Figur zusammen, die Tidhar »Genghis« nennt: ein Ex-General, der später ein bekannter Politiker wurde und dem neben dem Ruf, gute Verbindungen zum organisierten Verbrechen zu haben, auch der eines Vergewaltigers anhing.
Einer seiner Verbündeten war ein hoher Polizeibeamter, Tidhar fiktionalisiert ihn als »Cohen«. Er hat für jede Gelegenheit ein Torah-Zitat parat und mimt so den schrifttreuen Juden, der mit diesem Kostüm seine Rolle im Herzen der Korruption übertünchen will, aber vor allem alle damit wahnsinnig nervt. Schlau ist er dennoch: Sorgfältig wählt er aus, wem er sich andient, wen er zu seinem Verbündeten macht und wen zu seinen Untergebenen.
Einer davon ist Ari: Veteran des Libanonkriegs, seit der Kindheit mit einem Drogenhändler befreundet und selber suchtkrank. Wir lernen ihn 2003 beim Sex mit der Schwester des Drogenhändlers kennen, inklusive Ecstasy-High. Multitoxisch betäubt schießt er sich anschließend auf der Suche nach den Autobombenlegern durch die Unterwelt von Jaffa. Und am Ende kommt heraus, das all die Toten nur für seinen Boss nützlich gewesen sind.
Es ist eine typische Noir-Welt, in die uns Tidhar mitnimmt: Männer mit rauen Sprüchen, kaputt, korrupt oder beides zugleich; Kleinkriminelle mit einem flotten Spruch auf den Lippen, Unschuldige, die ins Visier geraten. Tidhars Figuren bewegen sich durch vermüllte Seitenstraßen, Restaurants, die ihre besten Tage hinter sich haben, und die Ecken der israelischen Städte, in denen Juden und Araber im Verbrechen vereint sind.
An Schauplätzen wie diesen erzählt Tidhar die Geschichte zweifelhafter Immobiliendeals in der besetzten West Bank, der Verwicklung in den internationalen Drogenhandel zwischen den USA, Israel und Kolumbien und des wachsenden Einflusses der russischen Mafia seit den 90er Jahren.
Tidhar wählt dafür kurze, fragmentarische, dialogreiche Kapitel, in denen seine Erzählstimme sich selten damit aufhält, Hintergründe und Motivationen zu erklären. Avi ist nicht nur von der eigenen Sucht getrieben, sondern auch von der Gewalt. Er tötet oft und meistens ohne äußere Notwendigkeit, und sich das zu erklären, überlässt Tidhar denen, die diesen Text lesen. Eine Ahnung von den Gefühlswelten der Figuren Tidhars bieten lediglich die israelischen Songs, die über die verschiedenen Jahrzehnte immer wieder zu hören sind.
All das macht »Maror« zu einem Text, der Zweifel an sich selbst zulässt. Ist es ein Stück dringend notwendigen Journalismus im Gewand eines Krimis, mit dem der ehemalige Kibbuz-Bewohner und heutige Londoner Lavie Tidhar seiner alten Heimat den Spiegel vorhalten möchte? Oder ist es nicht vielleicht doch zuerst eine Übung in den Tropen eines Krimi-Subgenres, der Tidhar die Faktizität unterordnet und damit eine realistische, vielleicht auch antisemitisch motivierte Lesart seines Buchs als israelkritische Parabel verlacht? Vielleicht liest man »Maror« am besten selbst. Und danach die beiden Nachfolgebände. Auf Englisch ist einer bereits erschienen, der dritte ist für dieses Jahr angekündigt.
Lavie Tidhar: »Maror«, Suhrkamp, 639 Seiten, 22 Euro
stadtrevue präsentiert
So 23.3., Comedia, 20 Uhr
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