Platz für alle(s)
Für längst etablierte Acts kann es höchsterfrischend sein, nochmal ein »Debütalbum« aufzunehmen. Weil man sich neu vorstellen kann, auf nichts aufbauen muss, theoretisch frei von den Erwartungen des Publikums agiert. Somit ist das Album »Sharon Van Etten & The Attachment Theory« (bereits auf Jagjaguwar erschienen) — eigentlich stellt es das siebte der Singer-Songwriterin dar — gleichzeitig die Erweiterung einer beeindruckenden Diskographie und eine Art Reset-Button. Erstmals hat Van Etten ihre Begleitband in den Schreibprozess integriert, auf dem Albumcover sind alle vier Musiker*innen abgebildet. Sowas bringt neue Aufmerksamkeit und frische Ambitionen mit sich, womöglich war das im Kontext von Sharon Van Ettens Karriere sogar nötig, da ihr letztes Album »We’ve Been Going About This All Wrong« (2022) etwas unterging.
Dass man durch das Hinzuziehen von Freunden selbstbewusster ist, trifft nicht nur beim Musikmachen zu und ist auf diesem Album eine unüberhörbare Tatsache. Außerdem wurde dadurch eine völlig neue Arbeitsweise integriert, so sind die Songs erstmals nicht alleine und auf der Akustikgitarre, sondern als Band entstanden (ja, es wurde sogar gejammt, was für grüblerische Indie-Melancholiker eigentlich ein No-Go ist). Wenn man beim Songwriting offen einbezieht, was die anderen Instrumentalist*innen spielen, entstehen ganz andere Dinge: Die Songs wurden auf »Sharon Van Etten & The Attachment Theory« nicht vorab geschrieben und dann bloß noch ausgeschmückt — nein, Songwriting und Arrangement gehen hier Hand in Hand.
In Songs wie »Trouble« oder »I Can’t Imagine (Why You Feel This Way)« ist es dementsprechend nicht so, dass sie am Ende um ein ultrafettes Bassriff ergänzt wurden, sondern: Die Basslinie ist das, was diese Tracks primär ausmacht. Ich war nicht dabei, doch ich vermute, dass solche Instrumentalparts auch der Startpunkt waren. Also zählt hier jedes Einzelteil des Gesamtsounds gleichermaßen. Coole Synthsounds wirken hier nicht (nur) wie Bereicherungen, sondern wie Notwendigkeiten. Man merkt, dass die Band liebt, was sie fabriziert — also geben sie alles und jedem Raum.
Anderes Beispiel: »Southern Life (What It Must Be Like)«, stellenweise verweilt die Gesangsmelodie nur auf einer Note. Bei sowas würde man gar nicht erst bleiben, wenn man hinter sich nicht eine großartige Klangwand aus knackigen Grooves, füllenden Synths und sphärischen Banking Vocals hätte. Funktioniert perfekt, klingt überragend. Auch hinsichtlich der Songtexte ist es so, dass sie — anders als bei anderen Alben von Sharon Van Etten — nicht ausschlaggebend sind, es gibt kein zusammenhängendes Thema. Inhaltlich ist das Album weniger greifbar, dadurch tatsächlich angenehmer — weil weniger aufgeladen. »Sharon Van Etten & The Attachment Theory« scheint die Ansicht zu verfolgen, dass Lyrics nicht dann gut sind, wenn sie dir auffallen. Ganz im Gegenteil! Rund müssen sie sein und zum gesamten Arrangement passen, das ist das Wichtigste.
Ja, es wurde sogar gejammt, was für grüblerische Indie-Melancholiker eigentlich ein No-Go ist
Nach New Order klingt die ebenso sentimentale wie treibende Gitarre/Bass-Kombination in »Idiot Box«, auch Debbie Harry von Blondie klingt an. Außerdem ist es der bombastische Stadion-Synthrock von Alben wie »Who’s Next« (The Who) und »Born in the U.S.A.« (Bruce Springsteen), der die DNA von »Sharon Van Etten & The Attachment Theory« zu großen Teilen ausmacht. Die Platte ist atmosphärisch und gigantisch zugleich — ein Trick, den sich schon The War On Drugs von diesen Klassikern abgucken konnten. Mit einer Mischung aus New Wave und Classic-Rock haben wir es hier zu tun: Es gibt wenige Dinge, die mehr mein Ding sind.
Sharon Van Ettens Soloalbum »Remind Me Tomorrow« (2019) verfolgte bereits eine ähnliche Klangästhetik zwischen Springsteen und Synthpop. Doch damals hatten die Songs noch nicht dieses freie, offene Bandgefühl; sie entwickelten sich vom Song aus und nicht von den Musiker*innen.
Gleiche Instrumentierung, ganz anderer Vibe: Es ist beeindruckend, wie deutlich man jetzt das Zwischenmenschliche dieser Gruppe raushören kann, und es macht mich glücklich zu hören, dass auch im Jahr 2025 nichts an die überwältigende Power einer harmonierenden Band herankommen kann. Selten verspüre ich so stark den Drang, unbedingt etwas im Livekontext erleben zu wollen — diese Band nämlich. Eine gute Combo im klassischen Sinne — mit der Fähigkeit, bereits ihr Debütalbum wie eine Greatest-Hits-Compilation klingen zu lassen.