Abschmelzungspoesie

Jennifer de Negri bricht in »reise nach BABYlon« den Eisschild aus queerer Scham und Heteronormativität

Ein Tonfall klingt in Jennifer de Negris neuem Gedichtband »reise nach BABYlon« an, den man von der Kölner Autorin bislang nicht kannte. Gerade in »Viele Feelings«, dem ersten Kapitel des Bandes, entwickeln die Gedichte eine große Zartheit und einen existenziellen Ernst der Dingwelt gegenüber. Rotklee, Pausenbrote und Fein­ripp­­hemden haben in ihnen Platz, und um den hals des lehrers hängt am band / die neongelbe triller­pfeife. In einer fundamentalen ­poetischen Blickwende hin zum Nicht-Menschlichen stellen sich die lyrischen Ichs vor, finger aus dem tastaturkörper zu ertasten wie in »jede nacht« oder sich zu verpuppen wie in »Nachtfalter­effekt«. Visuelle, szenische Poeme, dann aber auch Gedichte, in denen ein Ich zu einem Du spricht. Leicht­­füßig schwankt der Tonfall vom Innigen ins Forsche, Augen­zwin­kern­­de, Anglizismen und Neolo­gis­­men mischen sich in die Verse, bodyhorrorherrlich und gender­nonchalant geht es bei Jennifer de Negri zu, in einer baby­lo­ni­schen Vielsprachigkeit der poetischen Register.

Popkulturelle Kindheitsgrößen, Whitney Houston und »Kick it like Beckham«, aber genauso Adorno und Maxi Obexer, die lesbische grindr app, die es gar nicht gibt, Leslie Feinberg und ein queer-­feministischer Kanon stimmen in diesen Chor ein. Bewegungen des Nebeneinanderschreibens, in die auch die lyrischen Genres versetzt werden, frei über die Seite versprengte Verse neben Prosagedichten, klassische Strophengedichte, dreiversige Strophen gar, die mit Gedicht­titeln wie »Canto« an Dante oder Ezra Pound denken lassen, daneben dokumentarische Essay-­Gedichte wie im dritten ­Kapitel »Who is Whitch«, das sich poetisch entzündet an der lesbenfeindlichen Berichterstattung rund um einen historischen Mordfall von 1974.

meist verborgen lieben nackte frauen nackte frauen, so beginnt das visuelle Gedicht »Abschmelzung«, in dem die Verse immer kürzer werden. In de Negris »reise nach BABYlon« schmilzt die Poesie den Eisschild aus gefrorener queerer Scham, unsichtbarer Freund*innenschaft und (Wahl-)Verwandtschaft jenseits der heteronormativen Kernfamilie, aus beschwiegenen anthropozentrischen und patriarchalen Gewalten ab. Die Sprache verflüssigt sich, und mit ihr Vorstellungen vom Zusammensein auf dieser Erde. Gedichte, wie es in »Aus Höhlen gesprochen« heißt, voll spuren, voll zeichen, voll / andeutungen, ein wir ist ihr geheimversteck.

Jennifer de Negri: »reise nach BABYlon«, Parasitenpresse, 70 Seiten, 12 Euro