Man fühlt sich  isoliert, wütend  und ohnmächtig

Orry Mittenmayer hat 2018 in Köln den ersten Betriebsrat für Liefer­kuriere gegründet. In seinem Buch »Ausgeliefert« erzählt er von seinem Weg vom Schwarzen Arbeiterkind aus Holweide zum Gewerkschafter

Sie haben 2018 in Köln den allerersten Betriebsrat für Lieferkuriere bei Deliveroo gegründet. Wie schwer war das? 

Die Gründung selbst war gar nicht so schwer. Wir Deliveroo-Kuriere waren schon vor der Gründung eine Community. Wir mussten ja an bestimmten Orten auf unsere Aufträge warten, zum Beispiel am Stadtgarten.
Da sind wir ins Gespräch gekommen und haben uns Tipps für die Arbeit gegeben. Mit der Zeit hat es sich etabliert, dass wir nach Schichtende ein Bier da getrunken haben. So ist ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl entstanden, und als wir dann zusammen mit der Gewerkschaft NGG den Betriebsrat gegründet haben, haben uns die anderen Kuriere vertraut.

Wie hat Deliveroo auf die Gründung des Betriebsrats reagiert? 

Das Unternehmen hat viel Druck auf uns auf­gebaut. Wir Kuriere konnten auf einmal nicht mehr untereinander über die interne Deliveroo-App kommunizieren, damit die Fahrer:innen in anderen Städten nicht mitbekommen, was in Köln passiert ist. Wir haben dann WhatsApp und Telegram genutzt. Das war der erste ­Hinweis, dass sie uns fertig machen wollten. Der nächste Angriff war die Ankündigung, unsere befristeten Arbeitsverträge nicht zu verlängern, damit wir als Solo-Selbstständige für Deliveroo fahren. Dann hätten wir kein Anrecht auf einen Betriebsrat mehr gehabt. Und es gab Schikanen, etwa nächtliche Anrufe. Als der Betriebsrat schließlich etabliert war, hat ein Deliveroo-Anwalt versucht, alles anzufechten, was wir tun. Gleichzeitig haben wir die Kampagne »Liefern am Limit« ins Leben gerufen, um zu zeigen, wie schwer es ist, sich im Niedriglohn­sektor zu organisieren und auch politische Lobbyarbeit gegen befristete Arbeitsverträge zu machen. Und als unsere Verträge nicht verlängert wurden, war dann auch der Betriebsrat gescheitert.

2018 waren Lieferdienste neu und weitgehend unreguliert. Während der Coronapandemie haben sie einen Boom erlebt, heute sind sie alltäglich. Wie haben sich die Arbeitsbedingungen entwickelt? 

Als die Lieferdienste 2016 auf den deutschen Markt kamen, war das Wilder Westen: Wir mussten unsere eigenen Räder und Handys nutzen, die bereitgestellte Kleidung war schlecht. Es hat sich seitdem einiges verbessert — durch uns, aber auch durch den Betriebsrat bei Foodora, der kurz danach etabliert wurde. Als Foodora 2019 von Lieferando geschluckt wurde, mussten sie die Betriebsratsstrukturen übernehmen. Blöd gelaufen. Aber auch wenn manche Lieferdienste heute Räder und Handys stellen, ist das nicht immer der Fall. Auf meiner Lesetour habe ich Betriebsräte von Lieferando getroffen, die von den gleichen Angriffen berichten, die ich auch erlebt habe. Generell herrscht in diesen Unternehmen eine Zweiklassengesellschaft: Das Büropersonal erhält Essensgutscheine, die Kuriere das Minimum.

Sie sind Schwarz, gehörlos und durften nur die Förderschule besuchen. Hätten Sie gedacht, dass Sie jemals einen Betriebsrat gründen? 

Meine Zeit als Radkurier war keine schöne Zeit. Ich habe tagsüber Essen ausgefahren und danach am Abendgymnasium mein Abi nachgeholt. Ich hatte vielleicht zwei- bis dreihundert Euro für Essen und Freizeit. Da ist nicht viel Spielraum für Teilhabe, und das macht etwas mit einem: Man fühlt sich isoliert, wütend und ohnmächtig. Und wird so empfänglich für eine gewisse Rhetorik, die einfach ist, aber die diese Wut ausdrückt. Das hätte sicher auch bei mir Resonanz gefunden. Ich wollte damals eigentlich mit Politik, ­Parteien und Gewerkschaften nichts zu tun haben. Das waren für mich alles alte weiße Männer, die nur auf unsere Stimmen aus waren. Beim ersten Treffen mit der Gewerkschaft NGG war ich dann sehr positiv überrascht, wie sehr man uns ernstgenommen hat. 

Früher wollte ich mit Politik nichts am Hut haben. Das waren für mich alte weiße Männer, die nur auf unsere Stimmen aus waren

In Ihrem Buch »Ausgeliefert« erzählen Sie auch, wie Sie als Kind Bücher verschlungen haben. Was für eine Rolle hat das später in Ihrem Leben gespielt? 

Ich komme aus der Arbeiterschicht und habe mit 16 eine Ausbildung zum Buchhändler begonnen. Meine damalige Chefin hat mich ermutigt, von Lyrik bis Zeitgeschichte alles zu lesen. In den Laden kamen Professoren und Akademiker und wollten von mir wissen, ob sich ein Buch zu lesen lohnt. Ich dachte nur: »Ich bin 16 und in der Ausbildung, aber okay, let’s go!«. Und das hat mir ein bisschen die Angst vor dem akademischen Milieu genommen, vor der Art, wie dort gesprochen wird. Aber den theoretischen Rahmen für meine politische Arbeit und für den Zusammenhang zwischen meiner Schwarzen Identität, meiner Behinderung und meiner politischen Arbeit habe ich mir später im Politikstudium in Marburg selbst erarbeitet.

Warum selber?

Eigentlich sollte so ein Politikstudium doch genügend Einstiegspunkte geben. In meiner Praxis war mir der Zusammenhang auch klar. Aber in der linken Szene in Marburg wurden meine Erfahrungen mit Rassismus und Ableismus immer als Nebenwidersprüche abgetan. Bei Barack Obama habe ich dann gehört, wie wichtig der Autor James Baldwin und die Philosophin Angela Davis für ihn waren. Davis fand ich etwas tricky, aber bei Baldwin hat sich ein Schalter umgelegt: Das war eine sehr direkte, schöne poetische Sprache, die das Problem trotzdem benennt. Viele seiner Texte sind noch heute aktuell. Er spricht von Liebe, was ich als Solidarität und Wertschätzung verstehe. Wenn wir das normalisieren, können wir auch als Gewerkschafter besser kämpfen.