Wiegenlieder für eine gestresste Welt
Fragt man Melike Şahin nach ihrer Beziehung zu Istanbul, so bekommt man ein ehrliches Bild vermittelt. »Die Stadt ist reich an Angeboten, sie hat viele schöne Viertel und man kann in ihr viel tolles erleben, doch manchmal ist sie schon sehr überfüllt, chaotisch und ermüdend. Heutzutage sind die Leute angespannt wegen der wirtschaftlichen und politischen Situation. Ich habe eine Hassliebe zu Istanbul — und zugleich ist die Stadt meine Hauptinspiration.«
Was man sehr schön am Videoclip zu ihrer aktuellen Hitsingle »Canın Beni Çekti« sehen kann, der bereits mehr als 26 Millionen mal auf Youtube aufgerufen wurde. In diesem sieht man Şahin durch die für sie so inspirierenden Viertel Galata Köprüsü, Balat und Karaköy ziehen. »Jedes Mal, wenn ich meinen Videoclip ansehe, muss ich lächeln«, kommentiert sie. Ihr neues, zweites Album »AKKOR« vereint mit ansteckender Euphorie Einflüsse traditioneller türkischer Volksmusik und zeitgemäßer internationaler Popmusik.
Die Musik ihres Heimatlandes wurde Melike Şahin schon in der Kindheit nah gebracht. Ihr Vater, ein Anhänger der alevitischen Glaubensgemeinschaft, hörte türkische Volksmusik. Dementsprechend nennt Şahin Türküs Musiker:innen wie Tuğçe Şenol, Nilipek und Dilhan Şeşen als Einflüsse, allen voran aber Sabahat Akkiraz. »Ihre Stimme ist für mich immer noch etwas ganz Besonderes, sie ist erfüllt von einer Art Traurigkeit, Melancholie. Jedes Mal, wenn ich ihre Lieder höre, passiert etwas Emotionales mit mir. Ihre Musik versetzt mich in meine Kindheit. Ihre Stimme ist wie ein Wiegenlied. Ich glaube, sie hat auch meine Art zu singen tief beeinflusst.«
Wir kommen auf ihr aktuelles Album »AKKOR« zu sprechen. »Der Titel verweist auf das Licht eines Feuers, kurz bevor es ausgeht«, erklärt sie. »Am Ende ist nur noch eine weiße Asche übrig, die ganz wenig Licht und Wärme abgibt.« Gewählt hat sie den Titel, da sie sich am Ende des Schreib- und Aufnahmeprozesses wie »verbrannt« gefühlt habe. Die weiße Asche sei sie selbst: »Ich gebe immer noch Licht und Wärme an die Außenwelt ab.«
Meine Interpretation des Titels als Mut stiftende Aufforderung an ihre Mitbürger:innen nicht aufzugeben angesichts der schwierigen politischen und ökonomischen Bedingungen im Land (die Türkei leidet unter einer massiven Inflation), greift sie dankbar auf. »Ja, wir brennen. Und manchmal fühlen wir uns hoffnungslos. Die Situation war vor zehn Jahren viel besser. Und dennoch: Wir werden einen Weg finden, mit diesen deprimierenden Stimmungen fertig zu werden.«
Bei meinen Konzerten ist es nicht wichtig, wie man denkt oder wen man wähltMelike Şahin
Ob sie denn als Songwriterin das Gefühl habe, dass sie Menschen aus allen Teilen der türkischen Gesellschaft anspreche, will ich von Melike Şahin wissen? »Wenn ich in mein Publikum blicke, bin ich überrascht, wie unterschiedlich es ist. Alte und junge Leute, sogar Kinder. Mein Publikum ist wie ein Mosaik. Ich vertrete keine bestimmte Gruppe von Menschen. Heutzutage ist es wirklich schwer, auf den Straßen von Istanbul zusammenzukommen, aber bei mir kommen alle zusammen, um die Musik zu teilen.« Angesprochen auf ihre Vorbildrolle für Frauen und LGBTQ+-Community, antwortet sie zunächst verhalten. »Ich habe in meinem Leben noch nie etwas geschrieben, um die Dinge einer unterdrückten Gruppe zu vertreten.« Ergänzt dann aber doch: »Ich schreibe für mich selbst, spreche über meine Gefühle — und da ich mich nicht von anderen Frauen in der Türkei unterscheide, können sie sich damit identifizieren. Wir feiern unsere feministische Solidarität.«
Auf »AKKOR« geht es auch um den Ruhm, den der große Erfolg in ihrem Heimatland mit sich gebracht hat. »Wenn ich ehrlich bin, ermüdet es mich, in der Öffentlichkeit zu stehen. Ich bin ein Kontrollfreak — aber ich habe eben nicht immer alles unter Kontrolle.« Was geschrieben härter klingt, als es Melike Şahin mit sympathischen Lächeln rüber bringt. Mit »AKKOR« möchte sie nun den Schritt auf den Weltmarkt schaffen. Erste Touren in den USA und Europa haben sie zuletzt darin bestärkt. »Ich schreibe und singe zwar auf Türkisch, so dass im Ausland fast niemand versteht, wovon ich rede. Aber ich bin ziemlich sicher, dass ich die Menschen für meine anatolischen Vibes begeistern kann.«