Was Marielle weiß
Julia und Tobias sind das scheinbar perfekte Paar. Sie haben gutbezahlte, fordernde Berufe, ein schickes Eigenheim mit Designerküche und eine aufgeweckte Tochter, Marielle. Doch dann kommt es an der Schule zu einem Streit mit einer Mitschülerin, die Marielle eine Ohrfeige verpasst. Der Schlag ins Gesicht hat unvorhergesehene Folgen. Plötzlich besitzt die Tochter telepathische Fähigkeiten und ist in der Lage, alles mitzuverfolgen, was ihre Eltern den ganzen Tag tun und sagen — zum Beispiel Julias anzüglichen Flirt mit einem Kollegen, den sie abstreitet, oder den schwelenden Konflikt mit dem Marketingteam im Buchverlag, bei dem Tobias vom aalglatten Kollegen Sören bloßgestellt wird. Am abendlichen Esstisch erzählt er das ganz anders, nach Bestätigung heischend und mit ihm selbst in der Rolle des überlegenen Helden. Marielle lässt beides nicht durchgehen, entlarvt die Lügen. Die verblüfften Eltern wiegeln ab und spielen herunter. Damit beginnt ein Gedankenspiel um die Frage, was es mit einer Familie macht, wenn es keine Geheimnisse mehr gibt.
Natürlich halten Julia und Felix die Aussagen ihrer Tochter zunächst für Hirngespinste. Dann werden sie ärgerlich, drängen Marielle zu verraten, wie sie Situationen und Dialoge im Detail nacherzählen kann, bei denen sie nicht dabei war. Sie vermuten technische Tricks, drohen ihr das Tablet wegzunehmen, schleppen sie zum Kinderpsychologen. Sie sprechen sogar abends im Schlafzimmer hinter verschlossenen Türen untereinander Französisch, weil ihre Tochter die Sprache nicht versteht. Unter der kindlichen Dauerüberwachung beginnt die Fassade der Erwachsenenwelt mit ihren kleinen und größeren Lügen zu bröckeln. Und damit auch die Liebe.
In mal dramatischen, mal schwarzhumorigen Szenen wird abgewiegelt, misstraut, Schuld zugewiesen und manipuliert. Es kommt aber auch zu kurzen Momenten schmerzhafter Ehrlichkeit — aus der Not heraus. Als sich die Eltern gar nicht mehr anders zu helfen wissen, stellen sie selbst ihr Ideal gewaltfreier Erziehung infrage. Mit ihren Versuchen, statt zu heucheln, ihre insgeheimen Sehnsüchte in die Tat umzusetzen, scheitern beide kläglich.
Funktioniert soziales Miteinander nur durch kleine und größere Geheimnisse, weil uns die Wahrheit zu sehr verletzen würde?
»Was Marielle weiß« ist der zweite Langfilm des 1986 in Karlsruhe geborenen Frédéric Hambalek, dessen mit 10.000 Euro selbstfinanziertes Debüt »Modell Olimpia« 2020 beim estnischen Tallinn Black Nights Film Festival Premiere feierte und danach weitgehend unbeachtet blieb. Daher war der Autodidakt eine der Entdeckungen der diesjährigen Berlinale, wo »Was Marielle weiß« im Wettbewerb lief. In Hambaleks kompakt erzähltem und gut getimtem, immer wieder überraschendem Familiendrama wird unerheblich, wie plausibel der Auslöser und das übersinnliche Phänomen selbst sind, das die Handlung vorantreibt. Raffiniert verschiebt er familiäre Konstellationen. Hier sind es nicht die Eltern, die per Babyphone jeden Atemzug ihres Nachwuchses überwachen, sondern es ist das Kind, das als personifiziertes Aufnahmegerät die Lügen der Erwachsenen durchschaut. Mit allen Konsequenzen. So überzeugend dabei die von Julia Jentsch und Felix Kramer gespielten Eltern gezeichnet sind, bleibt allerdings erstaunlicherweise ausgerechnet die Titelfigur unterentwickelt und mehr Funktionsträger denn komplexe Persönlichkeit.
In Großaufnahme schaut Marielle gleich zu Beginn direkt in die Kamera. Schaut uns an, von oben herab. Ein irritierender Moment, noch bevor die Handlung einsetzt. Das Publikum wird Teil der Versuchsanordnung, die im besten Sinne an die sezierenden Beziehungsfilme von Yorgos Lanthimos erinnert, beißender Fremdschämhumor inklusive. Hambalek stellt dabei Fragen, die weit über seine Figuren hinausweisen: Welche Rollen spielen wir im Alltag, in der Familie und im Beruf? Funktioniert soziales Miteinander nur durch kleine und größere Geheimnisse, weil uns die Wahrheit zu sehr verletzen würde? Oder machen wir damit uns und allen ständig etwas vor? »Lass uns ehrlich miteinander sein«, sagt Julia. Dabei weiß sie selbst nur zu genau, wie unmöglich das ist.
D 2025, R: Frédéric Hambalek, D: Julia Jentsch, Felix Kramer, Laeni Geiseler, 86 Min. Start: 17.4.