»Ich bin ostdeutsche Kölnerin geworden«
1987 wurde das Bundesjazzorchester (Bujazzo) auf Anregung des Deutschen Musikrats vom Bandleader Peter Herbolzheimer als nationales Jugendjazzorchester der Bundesrepublik Deutschland ins Leben gerufen, das erste Konzert fand im Januar 1988 statt. Seit Gründung haben mehr als 900, heute teils namhafte Musiker:innen diese Jazz-Talentschmiede als Karriereturbo durchlaufen: Till Brönner, Roger Cicero oder Tom Gaebel ebenso wie Nils Wülker, Philipp Gropper, Peter Weniger, Nils Wogram, Eva Kruse, Matthias Schriefl, Uli Kempendorff, Paul Heller, Johanna Summer, Robert Landfermann, Michael Wollny. Die Liste ließe sich lange fortführen.
Bis 2006 war Herbolzheimer alleiniger künstlerischer Leiter. Danach folgte eine Zeit, in der die Leitungen halbjährlich wechselten, seit 2012 wird das Orchester von einer Doppelspitze geführt. Bis 2020 nahmen der Saxofonist Niels Klein und der US-Posaunist Jiggs Whigham diese Aufgabe wahr, bevor der Komponist Ansgar Striepens auf Whigham folgte. Seit Jahresanfang teilt sich die Kölner Saxofonistin Theresia Philipp mit Klein die Leitung — als erste Frau auf dieser Position.
Nicht nur die Leitungen des Bujazzo waren in den zurückliegenden Jahrzehnten reine Männerclubs, sondern auch die Besetzungen, in denen Musikerinnen wie die Berliner Pianistin Julia Hülsmann die Ausnahmen waren, die die Regel leider bestätigten. »Über viele Jahre haftete der Bigband-Kultur mitunter etwas machohaftes an«, sagt Niels Klein. »Es brauchte seine Zeit, diesem Eindruck entgegenzuwirken. Wir pflegen im Bujazzo einen offenen Umgang miteinander. In der aktuellen Besetzung sind es wieder fast 30 Prozent Frauen.« Geschlechterparität lasse sich nur dann wirklich realisieren, so der Bujazzo-Projektleiter Henning Vetter, wenn sich ausreichend viele Musikerinnen bewerben: »Wir sind froh, mit Theresia eine Musikerin für das Leitungstandem gewonnen zu haben. Das hilft uns, in Zukunft noch mehr junge Frauen für das Bujazzo überzeugen zu können.«
Auch Philipp, 1991 im sächsischen Großröhrsdorf geboren, ist Bujazzo-Alumni. »Ich war ab 2012 zwei Jahre lang Mitglied«, erinnert sie sich. »In meinem Bujazzo-Jahrgang waren Anna-Lena Schnabel und ich die Altsaxofonistinnen. Niels und Jiggs haben uns immer unterstützt. Aber diese Zeit war auch herausfordernd. Anna-Lena und ich mussten uns oft Sprüche anhören, dass wir nur deshalb im Bujazzo seien, weil wir die Frauenquote erfüllen würden. Dabei gab es in unserem Jahrgang vergleichsweise viele Musikerinnen. Nicht selten saßen wir Mädels aber auf einem unserer Zimmer und klagten unser Leid, wenn mal wieder bei den Proben irgendetwas vorgefallen war. Damals gab es noch gar kein Bewusstsein für Geschlechtergerechtigkeit. Wir wussten nicht, wie wir als Frauen mit negativen Erfahrungen umgehen sollten, es gab ja niemanden, an den wir uns hätten wenden können.«
Deshalb sieht es Philipp als eine ihrer Aufgaben an, ein Bewusstsein im Bujazzo für gruppendynamische Prozesse zu schaffen, die ein positives Arbeitsklima möglich machen. »In jedem Orchester gibt es Dynamiken, die sich nicht immer beherrschen lassen«, so die frische Bujazzo-Leiterin. »Ich will im Bujazzo eine Atmosphäre etablieren, in der jeder und jede ohne Angst Probleme ansprechen kann. Einen Orchesterrat gibt es bereits, aber womöglich lassen sich dessen Sprecher:innen noch mehr in den Gestaltungsprozess einbinden.«
Philipps Vertrag mit dem Bujazzo läuft vorerst vier Jahre. Künstlerisch hat sie sich einiges vorgenommen. Die Bigband hat als Gattung im Jazz eine weit zurückreichende Tradition, die jeder und jede kennen sollte, wenn er oder sie Jazz lernen und spielen will. Diese große Geschichte erleichtert die Arbeit mit einem Orchester wie dem Bujazzo enorm, weil es ein viel breiteres Repertoire gibt als für andere Besetzungen. Zudem will Philipp das Bujazzo in modernere Zusammenhänge bringen. »Es gibt zeitgenössische Bigband-Musik«, sagt sie, »die gar nicht der Tradition verpflichtet ist. Im Jazz steht Perspektivwechsel ja an oberster Stelle. Deshalb will ich zeigen, was es 2025 bedeuten kann, Bigband-Musik zu spielen: Allem Respekt vor der Tradition zum Trotz ist es wichtig, über den Tellerrand zu schauen.«
Im Jazz steht Perspektivwechsel an oberster Stelle. Deshalb will ich zeigen, was es 2025 bedeuten kann, Bigband-Musik zu spielenTheresia Philipp
Schon zu DDR-Zeiten war der Spielmannszug — vergleichbar mit der Blaskapelle in Westdeutschland — wichtiger Teil im Musikleben. Diese Spielmannszüge, die in der Regel Sportvereinen angegliedert sind, haben bis heute Bestand. Auch Philipp spielte in einem dieser Züge, der aber schon, wie sie sich erinnert, moderner besetzt gewesen sei als anderswo üblich: »Es gab viele Saxofone, die vielen Piccolo-Flöten waren durch richtige Querflöten ersetzt. Dadurch waren wir musikalisch breiter ausgerichtet als andere Spielmannszüge im Osten.« Auch wenn sie den DDR-Jazz erst spät entdeckt hat, kam sie schon während ihrer Zeit auf dem Musikgymnasium mit einem wichtigen Vertreter dieser Jazzgattung in Kontakt: »Ich spielte damals in einem Saxofonorchester, das Friedhelm Schönfeld leitete. Der war ein krasser Typ. Wie sehr er mich damals geprägt und inspiriert hat, ist mir aber erst klar geworden, als ich Jazz zu studieren begonnen habe.«
Die Entscheidung, ob sie Saxofon in Leipzig oder Köln studieren will, fiel der damals 19-Jährigen nicht leicht. Leipzig kannte sie schon, auch wollte sie eigentlich bei Johannes Enders studieren, der an der Leipziger Musikhochschule Professor für Jazzsaxofon ist. Gleichzeitig wusste sie, dass sie Sachsen hinter sich lassen muss, um neue Bekanntschaften schließen und eine unbekannte Jazzszene entdecken zu können. »Köln ist für mich nahezu perfekt«, erzählt Philipp. »Die Größe der Stadt passt, die Jazz- und Kulturszene ist national und international von Bedeutung. Was hier musikalisch alles passiert und wer hier ansässig ist, gefällt mir außerordentlich. Meine Projekte lassen sich mit Musiker:innen aus Köln verwirklichen, wenn es notwendig ist. Nach 15 Jahren in der Stadt bin ich ostdeutsche Kölnerin geworden.«
Studiert hat Philipp an der Hochschule für Musik und Tanz Köln unter anderem bei den Saxofonisten Claudius Valk und Roger Hanschel, ihr Abschlusskonzert hat sie mit Thomas Sauerborn (Drums) und David Helm (Bass) gespielt, mit denen sie heute noch als Pollon Trio zusammenarbeitet. In Köln hat sie mit dem Komponieren ein weiteres Standbein ihrer beruflichen Laufbahn aufgebaut, in dem sie mittlerweile genauso erfolgreich ist wie als Saxofonistin. Sie hat unter anderem für die Bigband des Hessischen Rundfunks gearbeitet und als Co-Komponistin von »A Kind Of … Choral Music« für den MDR-Rundfunkchor im vergangenen Jahr den »Deutschen Jazzpreis« bekommen.
In Köln hat sie auch erfahren, was es bedeutet, als Ostdeutsche in Westdeutschland zu leben. »Nachdem ich 2010 nach Köln gezogen war, habe ich zum ersten Mal meine ostdeutsche Identität wirklich wahrgenommen. Wenn ich darüber mit meinen Eltern spreche, runzeln sie die Stirn und sagen, dass ich doch gar nicht zu DDR-Zeiten groß geworden sei: Ich sei von ihnen stets gesamtdeutsch und nicht ostdeutsch erzogen worden. Von ähnlichen Erfahrungen erzählen viele Ostdeutsche meines Alters, die wie ich in den Westen gezogen sind.«
Seit 2023 ist Philipp eine der Stipendiat:innen des unter dem Dach vom Stadtgarten betreuten NRW-Förderprogramms NICA artist development. Im vergangenen Jahr hat sie in Kooperation zwischen der Cologne Jazzweek und NICA eine Auftragskomposition erhalten, die deutlich macht, wie sehr sie zur »politischen« Künstlerin herangereift ist. »Seeds Of Sweat« heißt das Stück, und es »spiegelt in gewisser Weise meine politische Haltung wider«, erläutert sie: »Das Stück ist inspiriert von Flinta*-Personen, die sich mit ihren Texten für die Rechte unterdrückter Menschen stark gemacht haben. Der Name »Seeds Of Sweat« bedeutet dabei nichts anderes, als dass das Ringen um Freiheit eine schwere, entbehrungsreiche und harte Arbeit ist, die auch etwas Dreckiges an sich haben kann.«