Ein Kinderspiel
Im bereits aufgeregten Treiben vor der Eröffnung der Venedig-Biennale verbreiten sich Geheimtipps immer wie Stille Post. 2022 war der Tipp, der einem ohne Zweifel am meisten zugeraunt wurde, der Belgische Pavillon, der mit der All-Over-Videoinstallation »Children’s Games« des Künstlers Francis Alÿs aufwartete. »Wohltuend«, »erfrischend«, »lustig« oder »herzerwärmend« lautete das allgemeine Urteil der Fachpresse und Kunstinteressierten.
Wohin man auch schaute, auf riesigen Screens im Raum und in Projektionen an den Wänden, waren Kinder in spielerische Aktivitäten unter freiem Himmel vertieft: Mal bei einer Schneeballschlacht in der Schweiz, beim Seilspringen auf einer Dachterrasse in Hong Kong oder am Rand einer Kobaltmine im Kongo, wo ein Kind in einem ausrangierten Autoreifen einen Sandberg herunter rollt. Zwischen all der politischen, gesellschaftskritischen, alles-richtig-machen-wollenden Kunst auf der Biennale verbesserte der Anblick der spielenden Kinder augenblicklich die Laune, man kam sofort zur Ruhe und war bald selbst ganz versunken in die Spiele.
Nun holt das Museum Ludwig die »Children’s Games« nach Köln, um Alÿs, den Wolfgang-Hahn-Preisträger von 2023, mit einer großen Ausstellung zu ehren. Der hat sich dafür einen besonderen Coup ausgedacht: Einen Teil der Räume gibt Alÿs in die Hände von Kölner Schüler*innen, die dort gemeinsam mit ihm und dem Museumsteam eine Spielzone und ein Kindermuseum mit Werken aus dem Depot einrichten. Die beteiligten Mini-Kurator*innen aus zwei Kölner Schulen in Lindweiler und Kalk sind zwischen 8 und 13 Jahren — und damit in einem ähnlichen Alter wie die Kinder in Alÿs’ Filmen. Den Spieleparcours hinter der Sonderausstellungsfläche haben sie mit Fundstücken aus dem Museum ausgestattet, aus Werkstätten und Büros, von Seilen und Decken über Pappen bis zu rollbaren Transporthilfen. Für das Kindermuseum, das im Oberlichtsaal eingerichtet wird, haben die Kids Werke aus der Sammlung zusammengestellt und kommentiert.
Das Museum habe ganz bewusst den Blick auf die Sammlung aus den Augen der jungen Besucher*innen gesucht, erklärt die stellvertretende Direktorin Rita Kersting. Sie hatte schon länger vor, ein größeres Projekt mit Kindern als Abbild der Gesellschaft zu realisieren und fand mit Francis Alÿs den passenden Mitspieler, um die Perspektive der Kinder in den Fokus zu rücken und vor allem ernst zu nehmen. Das Museum verzichtet entsprechend auf eine wissenschaftliche Publikation zur Ausstellung, stattdessen gibt es Broschüren mit Mitmach-Spielen. Der Aspekt der Teilhabe ist ein elementarer Ansatz seiner Arbeit — auch alle Videoarbeiten und selbst Kataloge sind frei verfügbar auf seiner Website abrufbar.
Die Serie »Children’s Games« entsteht seit 1999 an allen möglichen Orten auf der Welt; angefangen in Mexiko, wo Alÿs seit 1986 lebt. Inzwischen reist er gezielt an Plätze, um die Serie weiterzuentwickeln. Der Dreh, der meist mehrere Tage dauert, scheint spontan und zufällig, die Kamera beobachtet die Kinder ungestört bei ihrem Spiel aus verschiedenen Perspektiven und Winkeln, dennoch ist alles minutiös geplant und bis ins kleinste Detail durchdacht. Vorbereitende Skizzen legen den späteren Film fest, auch die Präsentation und Szenografie sind perfekt abgestimmt. In Köln entsteht ebenfalls ein neuer Teil der Serie, der in die Ausstellung integriert wird. Die Faszination, die man in Venedig empfunden hat, werden die Filme auch hier auslösen. Die Kinder scheinen quer durch die Kontinente in einem utopischen Moment vereint, in ihrer Freude und völligen Versunkenheit. Die Welt läuft für die Dauer des Spiels nach ihren eigenen Regeln, in denen Kultur, Religion und Krisen keine Rolle spielen.
Manchmal kann Poetisches politisch werden und Politisches PoesieFrancis Alÿs
Das Spielerische, Überraschende, Spontane kennzeichnet das gesamte Werk Alÿs’, ob Video, Malerei, Zeichnung oder Aktionen. Die scheinbar zwecklosen, absurd anmutenden Szenen verbinden seine Praxis mit der Parallelwelt der spielenden Kinder. Oft wurde er als zeitgenössischer Flaneur bezeichnet, in Erinnerung an die schreibenden und dichtenden Stadtspaziergänger des 19. Jahrhunderts. Tatsächlich sieht man ihn insbesondere in den frühen Videoarbeiten häufig beim Gehen. Mal schiebt er einen Tag lang einen großen Eisblock durch die Straßen von Mexiko-Stadt, bis nur noch eine Pfütze übrig bleibt (ein Kommentar auf das oft schiefe Verhältnis von Aufwand und Ergebnis im mexikanischen Alltag). Dann wieder spaziert er, wie in Paris 2002, mit einer tropfenden Farbdose durch die Stadt und hinterlässt dabei eine krakelige weiße Spur auf den Straßen. Ein Beweis? »Ich war hier«? Eine Kartierung? Eine Fluxusperformance? Oder eine Beschäftigung mit der großen Frage: Wem gehört der öffentliche Raum, und wer hat das Recht, ihn wie zu gestalten? Als ausgebildeter Architekt ist Alÿs ein kundiger und kritischer Beobachter städtischer Räume, seine künstlerische Arbeit existiert nur in Auseinandersetzung mit ihm.
Das Kindliche steckt in vielen Handlungen, die er in seinen filmischen Aktionen vollzieht, wie in seiner Arbeit »Colector« von 1990-1992, in der er einen selbstgebauten Hund aus klappernden Metallteilen an einer Schnur hinter sich her zieht, als würde er mit ihm Gassi gehen. Oder wenn er im Gehen eine Stange an Absperrungen und Zäunen in London entlang zieht und dabei verschiedene Percussion-Sounds erzeugt (wer hat das als Kind nicht gemacht?), und gleichzeitig Grenzen im öffentlichen Raum, die bestimmte Menschen von Orten fernhalten sollen, hörbar macht. Denn immer schwingen in den auf den ersten Blick absurden und humorvollen Momentaufnahmen andere Ebenen mit — politische, gesellschaftskritische, philosophische. »Manchmal kann Poetisches politisch werden und Politisches Poesie«, so Alÿs.
Auch die Reihe der »Sign Paintings«, aus der zwei Exponate im Rahmen des Wolfgang-Hahn-Preises für die Kölner Sammlung angekauft werden konnten, erinnert an das Spiel »Stille Post«. Dafür gab er eigene Bilder zu professionellen Schildermalern in Mexiko, die Werbetafeln auf Emaille herstellen, und beauftragte sie, sein Werk in ihrem eigenen Stil neu zu interpretieren. Von diesen machte er später selbst wieder malerische Variationen — Autorschaft und Originalbegriff verschwimmen. Der Zufall spielt immer mit, aber in einem fest definierten, wenn auch sehr offen gehaltenen Rahmen.
Museum Ludwig, Heinrich-Böll-Platz 1, Eröffnung am 11.4, bis 3.8.; Di–So 10–18 Uhr, jeder 1. Donnerstag bis 22 Uhr