Barock überbordender Fabulierer: Mircea Cărtărescu, Foto: Leonard Hilzensauer, Zsolnay Verlag

Rumänischer Homer

Mircea Cărtărescu hat ein historisches Epos über den äthiopischen Kaiser Tewodoros II. geschrieben

Die Hände von Kaiser Tewodoros II. tasten auf dem Tisch nach dem kalten Eisen der Pistole. Draußen haben, historisch belegt, die ­Kolonialtruppen von Feldmarschall Robert Napier die Festung ­Magdala gestürmt, die britische Äthiopien-Expedition hat ihr Ziel erreicht, und ab hier übernimmt die Fiktion im buchstäblich ­sagenhaften neuen 700-Seiten-­Roman von Mircea Cărtărescu. »Jetzt am gesegneten Ostertag im Jahre des Herrn 1868, nachdem du ein halbes Jahrhundert erfüllt und damit zugebracht hast, eine Sache durchzusetzen, nämlich die Welt zu gewinnen um den Preis, deiner Seele verlustig zu ­gehen, bleiben dir nur noch der Hochmut, der Hass, der rohe ­Wille, über Leichen zu gehen, diesmal über deinen eigenen ­immer noch lebendigen Balg«. Seiner Festnahme will Tewodoros mit seinem Suizid zuvorkommen. In ausschweifend mäandernden Rückblenden erzählen die sieben Erzengel die schillernde Geschichte des Tewodoros, der ­beständig in der zweiten Person Singular angesprochen wird.

An Cărtărescus barock überbordender Fabulier-Poetik, die historisch belegtes Geschehen mit surrealen und phantastischen Elementen anreichert, dürften sich die Geister scheiden. Der hohe Ton erinnert an die homerischen Epen oder die Bibel, und die ornamentalen Satzgirlanden des rumänischen Anwärters auf den Literatur-Nobelpreis winden sich in komplexen Nebensätzen über halbe Seiten. Ernest Wichner hat diesen Schachtel-Stil glänzend ins Deutsche übertragen und sich in der Du-Anrede für eine textnahe Übersetzung ­entschieden, die unausweichlich scheint, aber im Deutschen zu verrenkten Präterita wie »be­tastetest« und »betrachtetest« führt, die einfach nicht klingen.

Nach Äthiopien navigiert das weltumspannende Großepos, nachdem es durch den griechischen Archipel und die rumänische Walachei gestreift ist. Dort kommt »Tudor« am Beginn des 19. Jahrhunderts als Sohn einer griechischen Dienstmagd zur Welt, die dem Jungen rumänische Märchen vorliest und ihn mit der Odyssee vertraut macht. Als »Theodoros« sorgt er im zweiten Teil des Romans nach einer ersten Häutung seiner Person in der ­Ägäis als Pirat für Angst und Schrecken, bevor er sich noch ­einmal eine neue Identität zulegt, die des Kassa Haile Giorgis, der auch historisch Kaiser Tewodoros II. wurde. In einer letzten erzählerischen Vorwärtsbewegung endet Cărtărescus gigantischer Roman im Jahr 2041 auf einem »Feld vor den Toren Jerusalems«.

Mircea Cărtărescu: »Theodoros«, Zsolnay, 672 Seiten, 38 Euro