Tatort Sportverein
Es ist nur ein gutes Jahr her, da ging Katharina Opitz (Name geändert) zum ersten Mal zum Line Dance. Diese Tanzform, bei der die Tänzer in Reihen neben- und hintereinander tanzen, zu Pop- und vor allem zu Countrymusik, erlebt einen Boom in Deutschland. Katharina Opitz fing bei einem Verein im Kölner Umland an und war sofort Feuer und Flamme. Sie tanzte mehrmals pro Woche, fuhr mit anderen Vereinsmitgliedern zu Line-Dance-Veranstaltungen, feierte mit ihnen Feste.
Doch dann geschah etwas, das ihr die Freude am Training gründlich verdarb. Im Juli ging sie mit einer Tanzkollegin, die auch im Vorstand ist, im Königsforst spazieren. Da fasste diese ihr während der Unterhaltung seitlich an die Brust. »Ich war wie gelähmt«, schildert Opitz. Sie tat, als sei nichts gewesen, doch als sich der Übergriff eine Woche später beim Training wiederholte, zog Opitz sich zurück. Als andere Vereinsmitglieder sie fragten, warum sie immer ganz hinten tanze und keine gemeinsamen Veranstaltungen mehr besuche, vertraute sie sich ihnen Monate später an und informierte auch die beiden Trainerinnen, die im Vereinsvorstand sind. Doch Unterstützung erfuhr sie nicht, im Gegenteil: Mitten in einer Trainingsstunde, in Anwesenheit von rund 30 Leuten, so schildert es Opitz, hätten die Vorstände die Geschichte öffentlich gemacht — gegen ihren Willen. »Die Täterin hat alles abgestritten, und es hieß, ich hätte den Verein gegen sie aufgehetzt und üble Nachrede betrieben. Es war eine klassische Täter-Opfer-Umkehr«, sagt Opitz. Die eigentliche sexuelle Belästigung sei unangenehm gewesen, sagt sie. »Aber das war nichts gegen das, was darauf folgte.« Opitz versuchte sich zu wehren — doch weil sie den Übergriff nicht nachweisen kann, ließ sich juristisch nichts ausrichten.
Sexualisierte Gewalt im Sport bleibt oft im Verborgenen. Irmgard Kopetzky von der Kölner Beratungsstelle »Notruf und Beratung für vergewaltigte Frauen« geht von einer hohen Dunkelziffer aus. Sie betreute eine Boxerin, die während des Trainings einen Übergriff erlebte. Trotz ihrer Schlagfertigkeit verfiel sie in Schockstarre. »Das ist eine klassische Reaktion und zeigt, wie Ohnmacht eine solche Situation dominiert«, sagt Kopetzky. Trainer und Trainerinnen haben eine einflussreiche Position, Sportlerinnen und Sportler sind oft abhängig und haben Sorge, aus dem Team oder Kader zu fliegen, wenn sie den Übergriff öffentlich machen.
»Täter suchen gezielt Strukturen, in denen sie Macht ausüben können«, so Kopetzky. Hinzu kommt die körperliche Nähe im Sport. Berührungen können Teil des Trainings sein und sind nicht immer eindeutig einzuordnen. »Täter nutzen diese Unsicherheit bewusst aus.« Schutzkonzepte, die in der Kinder- und Jugend-
arbeit mittlerweile verpflichtend sind, seien effektive Präventivmaßnahmen gegen die verbreitete Sprach- und Hilflosigkeit. »Solche Konzepte braucht es für alle Altersgruppen«, fordert Kopetzky.
Die Beratungsstelle »Lobby für Mädchen« betreut derzeit drei Mädchen, die Übergriffe im Sport erlebt haben. »Die Hemmschwelle, sich jemandem anzuvertrauen, ist enorm hoch«, sagt Mitarbeiterin Antonia Meier. Einige Mädchen fühlten sich mitschuldig. »Wir hören oft: ›Ich habe ja dazu beigetragen. Die Erwachsenen wissen doch, was richtig ist‹«, berichtet Meier. Die Beraterinnen versuchen, den Mädchen dann deutlich zu machen, dass sie keinesfalls schuldig sind — und dass auch ein anzüglicher Blick bereits Grenzen verletzt und zu weit geht.
Die Täterin hat alles abgestritten, und es hieß, ich hätte den Verein gegen sie aufgehetzt und üble Nachrede betrieben. Es war klassische Täter-Opfer-UmkehrKatharina Opitz
»Wenn Betroffene sich anvertrauen, erleben sie leider immer noch häufig einen Spießrutenlauf«, sagt Bettina Rulofs, Sportwissenschaftlerin an der Kölner Sporthochschule. Rulofs hat mehrere Studien zu sexualisierter Gewalt im Sport geleitet, auch im Auftrag der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, die auf Beschluss des Bundestags seit 2015 sexuellen Kindesmissbrauch in Familien und Institutionen untersucht. In einer ersten Studie 2016 zum Leistungssport berichtete etwa ein Drittel der Athletinnen und Athleten, eine Form sexualisierter Gewalt erlebt zu haben, einer von neun berichtete von schwerer oder länger andauernder sexualisierter Gewalt. 2020 folgte die bundesweit erste Breitensport-Studie; hier gab ein Fünftel der Befragten an, sexualisierte Gewalt mit Körperkontakt erlebt zu haben — vor allem im Kindes- und Jugendalter, aber auch als Erwachsene. Mädchen und Frauen waren dabei deutlich häufiger von Gewalt betroffen als Jungen und Männer, die Tat wurde jedoch mehrheitlich von erwachsenen Männern ausgeübt.
Der Sport habe spezifische Bedingungen, die den Missbrauch ermöglichen, schildert auch Rulofs: »Die soziale und körperliche Nähe ist das Schöne am Sport, aber sie kann ausgenutzt werden.« Im Breitensport gebe es zudem eine gewisse Idealisierung des Ehrenamts. »Wer sich im Verein ehrenamtlich als Trainer engagiert, ist zu Recht hoch angesehen«, so Rulofs. Aber diese Position erleichtere es unter ungünstigen Bedingungen auch, sexuell übergriffig zu werden. Inzwischen seien viele Vereine für das Thema sensibilisiert, sagt Rulofs. Seit 2010 die vielen Missbrauchsfälle an Internatsschulen und in der katholischen Kirche zutage traten, habe sich einiges bewegt. Seit Inkrafttreten des Landeskinderschutzgesetzes 2022 können Vereine nur dann Fördermittel für Kinder und Jugendliche erhalten, wenn sie ein Schutzkonzept vorlegen.
Esther Giesen ist Referentin für Prävention beim Kölner Stadtsportbund. Sie berät Vereine zu Prävention und Intervention und ist auch Anlaufstelle für Betroffene. »Vereine sind zunehmend offen und interessiert an dem Thema«, sagt Giesen. Schon 2011 hat der Landessportbund einen Maßnahmenkatalog entwickelt, an dem sich Vereine orientieren können. Alle Maßnahmen umzusetzen, dauert im Schnitt zwei Jahre. Kann man das von Ehrenamtlichen überhaupt erwarten? »Hauptsache, Vereine machen sich auf den Weg und beginnen, ein Schutzkonzept zu entwickeln«, so Giesen. Wichtiger als ein perfekt ausformuliertes Konzept sei es, in eine Auseinandersetzung zum Thema zu kommen, Gewalt grundsätzlich »besprechbar zu machen zugunsten einer höheren Sensibilität aller Beteiligten«. In Vereinen, die einen solchen Prozess durchgemacht und ein Schutzkonzept haben, sind auch die Fälle sexualisierter Gewalt seltener.
Katharina Opitz hat sich lange gefragt, ob sie anderen von den Übergriffen überhaupt habe erzählen dürfen, wo sie sie doch nicht beweisen kann. »Aber jetzt bin ich sicher, dass es richtig war.« Sie tanzt jetzt bei einem anderen Verein. »Der steht voll hinter mir und unterstützt mich auch bei dem Thema.«